Die Grünen sind keine Gefahr für den Bestand der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung

Extrem staatstragend

Seit Annalena Baerbocks Nominierung als Kanzlerkandidatin sind die Grünen beliebter denn je, auch bei Vertretern von Kapitalinteressen.

»Totalitäres Denken, Orwell’sche Sprachzwänge, technologische Irrläufe, Wohlstandsverlust und selbstmörderischen Klimafanatismus« sieht der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen herannahen. Der Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alexander Gauland, befürchtet »schwerste und irreparable Schäden« für Deutschland, »noch mehr staatlichen Zwang und Unfreiheit« und eine »weitere Zerstörung von Wohlstand, innerer Sicherheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt«.

Was ist geschehen? Für ein Wahljahr eigentlich nichts Ungewöhnliches: Eine Partei hat eine Kanzlerkandidatin ernannt. Allerdings gehört die frisch nominierte Annalena Baerbock aus Sicht der AfD und ihrer Anhänger nicht zu irgendeiner Partei, sondern zum Feind schlechthin: zu den Grünen, also zur »links-grün versifften« Partei der »Gutmenschen«.

Dass es wie in Baden-Württemberg auch auf Bundesebene zu einer Wachablösung an der politischen Spitze der bürgerlichen Klasse kommen wird, scheint zurzeit nicht völlig abwegig.

Doch nicht nur das rechtsextreme Wutbürgertum befindet sich in heller Aufregung. Ulf Poschardt, Chefredakteur von Welt/N24 und Vertreter eines deutschen Liberalismus, der sich geistig auf die drei Formeln »Freie Fahrt für freie Bürger«, »Leistung muss sich lohnen« und »Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass   reduziert, warnte nach Baerbocks Nominierung in der Welt: Die Grünen seien »anständig, erwachsen – aber gefährlich wie noch nie«. Die Kampagne der Partei wirke »modern und elegant«, so Poschardt. »Doch hinter der Inszenierung lauern Intoleranz und Umverteilungsphan­tasien.« Die Chefökonomin der Welt, Dorothea Siems, legte am Wochen­ende nach: »Baerbocks Migrationspolitik gefährdet unseren Sozialstaat.« Denn »Bildungsferne aus vielen Regionen« könnten, wenn die Pläne der Grünen verwirklicht würden, »als Arbeitsmigranten kommen«, um staatliche Leistungen zu beziehen, womit »der Kollaps des Sozialsystems nur eine Frage der Zeit« wäre.

Die Untergangsszenarien, die nach Baerbocks Kandidatur in Umlauf gebracht wurden, sind erheiternd. Subversives sucht man bei den Grünen vergeblich, eine Gefahr für den Bestand der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung geht von ihnen nicht aus. Das legt schon allein Baerbocks Vita nahe. Die Tochter einer Sozialpädagogin und eines Maschinenbauingenieurs hat eine mustergültige bildungsbürgerliche Karriere hingelegt: Nach dem Abitur ­studierte sie Politikwissenschaft und Öffentliches Recht in Hamburg sowie Internationales Recht an der London School of Economics and Political ­Science. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums stieg sie in die Politik ein: Zunächst war sie Büroleiterin der damaligen Europaabgeordneten der Grünen, Elisabeth Schroedter, dann Referentin für die Bundestagsfraktion der Partei.

Auch in Baerbocks Antrittsrede als Kanzlerkandidatin findet sich nichts Aufrührerisches, vielmehr gibt sie ein Potpourri des Vokabulars der »Mitte« zum Besten: Es geht Baerbock um »Politik für die Breite der Gesellschaft«, um »Wohlstand, Freiheit und Sicherheit«, um die »wertebasierte und wehrhafte Demokratie«, »unseren Mittelstand« und die »Verbundenheit der Generationen«.

So sind die Warnungen vor der Kandidatin Baerbock und die Angriffe auf sie kein Beleg für das systemgefährdende Potential der Grünen, sondern für die Schärfe der Konfrontation rivalisierender bürgerlicher Fraktionen. In dieser Auseinandersetzung steht es derzeit so gut für die Grünen und ihre Anhänger, dass die Partei erstmals eine eigene Kanzlerkandidatin aufgestellt hat. Das versetzt Rechtsextreme bis Rechtsliberale in Panik.

Neu ist dieser Konflikt zwischen altem und neuem Bürgertum nicht. Vor mehr als zehn Jahren entzündete er sich erstmals öffentlichkeitswirksam am Projekt »Stuttgart 21«. Der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) – ein rechtskonservativer Hardliner, persönliches Vorbild: Franz Josef Strauß – wollte den Bahnhofsneubau so durchsetzen, wie Christkonservative fast 60 Jahre lang solche Vorhaben verwirklicht hatten: auf technokratische Art, und wenn nötig mit harter Hand. Einen blutigen Polizeieinsatz gegen teils minderjährige Baumschützer im Stuttgarter Schlossgarten und eine Landtagswahl später war Mappus sein Amt los. Im Mai 2011 wurde Winfried Kretschmann Ministerpräsident, die Grünen beendeten die Herrschaft der CDU, die seit 1953 gewährt hatte. Erst im März gewannen die Grünen erneut die Landtagswahl in Baden-Württemberg, Kretschmann geht in seine dritte Amtszeit.

Dass es auf Bundesebene zu einer solchen Wachablösung an der Spitze der bürgerlichen Klasse kommen wird, scheint zurzeit nicht völlig abwegig. Bei der sogenannten Sonntagsfrage des Marktforschungsunternehmens Forsa kurz nach Baerbocks Nominierung gaben 28 Prozent der Befragten an, bei der Bundestagswahl den Grünen ihre Stimme geben zu wollen. Für CDU und CSU sprachen sich lediglich 21 Prozent aus, für die SPD nur 13 Prozent. Zudem beantragten nach Angaben der Grünen in der vergangenen Woche 2 159 Menschen die Mitgliedschaft in der Partei, ein Rekord in der Partei­geschichte. Die Zahl der Mitglieder ist seit 2015 von weniger als 60 000 auf fast 110 000 gestiegen.

Längst sind auch die Ideale neubürgerlicher Lebensführung so verbreitet, dass kaum eine Werbeabteilung sie mehr ignorieren kann. Die Zielgruppe mit dem lifestyle of health and sustai­nability, wie es im Jargon von Soziologen und Marketing-Strategen heißt, legt keinen Wert auf die Statussymbole des alten Bürgertums, sondern auf »verantwortungsvollen Konsum«. Baerbock, die sich in ihrer Laufbahn als Trampolinspringerin »Körperbeherrschung, Spannung, Mut« antrainierte, wie die FAZ berichtete, verkörpert das Gesundheits- und Nachhaltigkeitsethos problemlos, reichert es aber mit einer guten Portion Bodenständigkeit an, die selbst Konservative neidisch machen dürfte. Gern gibt sie in Interviews die zweifache Mutter und den Familienmenschen. Dem Glauben an Gott kann sie zwar nichts abgewinnen, wohl aber der gemeinschaftsstiftenden Funktion der Religion. »Ich bin nicht gläubig, aber trotzdem in der Kirche, weil mir die Idee des Miteinanders ­extrem wichtig ist«, sagte sie Bild im Dezember.

Auch führende Funktionäre des Kapitals können sich mit Baerbock anfreunden. Auf die Frage »Wen würden Sie bei einer Direktwahl zur Kanzlerin oder zum Kanzler wählen?«, die die Wirtschaftswoche vergangene Woche stellte, antworteten etwa 1 500 Führungskräfte aus Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst eindeutig: 26 Prozent der Befragten sprachen sich für Baerbock aus, 16 Prozent für Christian Lindner (FDP), 14 Prozent für Armin Laschet (CDU), zehn Prozent für Olaf Scholz (SPD). Das Manager-Magazin urteilte vor zwei Wochen: »Die wirtschaftspolitische Garde der Ökopartei ist längst aufgestellt und hervorragend vernetzt. Bereit für einen radikalen Umbau der Industrie.« Unternehmer und Manager können den Klimawandel nicht mehr ignorieren, dessen Auswirkungen bedrohen bisherige Geschäftsmodelle, Handelswege und Absatzmärkte, oder schlicht: den Profit.

Die Grünen empfehlen sich hier als entschlossene Modernisierer. Dass Klimapolitik »kein Gegensatz zur Wirtschaft« sei, betont Baerbock sinngemäß immer wieder. Es gehe darum, den »Industriestandort Deutschland ins 21. Jahrhundert zu führen – im Lichte des Pariser Klimaabkommens«, sagte sie bereits im ARD-Sommerinterview 2019. Vertreter kapitaler Interessen goutieren die grüne Vorstellung von einer »sozial-ökologischen Marktwirtschaft«. Schließlich gilt auch in einem Kapitalismus mit grünem Daumen weiterhin das von Marx formulierte Gesetz der Verwandlung von Geld in mehr Geld: ­G-W-G’.

Daran, dass mit ihnen nicht nur Wirtschaft, sondern auch Staat zu machen ist, wollen die Grünen ebenfalls keinen Zweifel aufkommen lassen. Bereits 2018 gaben die Vorsitzenden Baerbock und Robert Habeck die Parole aus: »Wir müssen staatstragend und radikal zugleich sein.« Radikal sind die Grünen, allerdings eher wie Projektmanager, die unter allen Umständen ihre neue Idee durchpeitschen wollen. Staatstragend waren sie bereits als Koalitionspartner der SPD unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005. Sie verantworteten mit den Sozialdemokraten die sogenannte Agenda 2010, ein gigantisches Programm zur Armutsverwaltung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, also zur Zerstörung arbeitsrechtlicher Errungenschaften.

Davon wollen die Grünen mittlerweile nichts mehr wissen. Ihrem Wahlprogrammentwurf zufolge soll Hartz IV durch eine höhere »Garantiesicherung« ohne Sanktionsdrohungen ersetzt werden. Minijobs sollen in »sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überführt« werden. Zudem hat die Partei in den vergangenen Jahren stärkere Verbindungen zu den Gewerkschaften aufgebaut.

Um es mit dem Politologen Johannes Agnoli zu sagen: Die Grünen scheinen sich auf die »Technik des sozialen Friedens« verlegt zu haben. Besänftigende Signale an Lohnabhängige, Erwerbslose und Gewerkschaften sollen Vorbehalte aus diesen Gruppen möglichst zerstreuen, Verzicht für den »Industriestandort Deutschland«, den »Wirtschaftsstandort Deutschland«, »unser Land« und »für die Idee des Miteinander« (Baerbock) lässt sich später immer noch einfordern. Schließlich müssen die grünen Modernisierer zunächst den Konflikt mit dem störrisch-reaktionären Altbürgertum austragen, das sich sträubt, ihnen die radikal staatstragende Zukunft zu überlassen.