Die Deutsche Bahn will keine Entschädigungen an Holocaust-Opfer zahlen

Deportation auf eigene Kosten

Die niederländische Eisenbahngesellschaft beschloss 2019, Entschädigungen für die Deportationen in Konzentrationslager zu zahlen. Die Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG lehnen solche Zahlungen bisher ab.

Vier Pfennig pro Kopf und Bahnkilometer – das war der Betrag, den die Deutsche Reichsbahn denjenigen berechnete, die in Güterwaggons in die Mordstätten in Osteuropa verschleppt wurden. Der Transport galt als Fahrt dritter Klasse; Kinder fuhren für die Hälfte des Preises, Kleinkinder umsonst. Bei einer Fahrt mit über 400 Personen gewährte die Reichsbahn dem Reichssicherheitshauptamt einen Rabatt von 50 Prozent.

Nach öffentlichem Druck bezahlte die staatliche niederländische Eisenbahngesellschaft Nederlandse Spoorwegen im November 2019 eine Entschädigung, um einer Klage des 85jährigen niederländischen Holocaust-Über­lebenden Salo Muller zuvorzukommen. Seine Eltern gehörten zu den etwa 107 000 Jüdinnen und Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in das von den deutschen Besatzern errichtete Durchgangslager Westerbork gebracht worden waren. Von dort aus wurden sie ab der deutschen Grenze mit der Deutschen Reichsbahn in Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka oder Sobibór deportiert; lediglich 5 000 von ihnen überlebten die Lager.

Der Rheinischen Post zufolge stellte die niederländische Bahn die Transportkosten bei den deutschen Besatzern in Rechnung und erhielt mehrere ­Millionen Gulden, die diese aus dem beschlagnahmten jüdischen Besitz ­bezahlten. Die niederländische Bahn konnte etwa 7 000 Opfer und Hinterbliebene ausfindig machen und entschädigte sie mit insgesamt 50 Millionen Euro. Die Regelung betraf jedoch nur die Transporte innerhalb der Niederlande.

Im vergangenen Juli hatte sich Mullers Anwalt, Axel Hagedorn, mit verschiedenen Schreiben an die Deutsche Bahn AG, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) gewendet. Darin forderte sein Mandant, dass sich die Deutsche Bahn AG für den Strecken­abschnitt ab der Grenze des Deutschen Reichs finanziell verantworten solle. Nach einer Umfrage des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) Ende Januar schlossen sich drei der vier Oppositionsparteien im Bundestag, nämlich Grüne, FDP und Linkspartei, dieser Forderung an.

Die Deutsche Bahn AG betrachtet sich jedoch nicht als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn und lehnt individuelle Entschädigungszahlungen ab. »Es ist die Bundesrepublik Deutschland, die Fragen der materiellen Entschädigungen mit Hilfe zwischenstaatlicher ›Wiedergutmachungsabkommen‹ sowie verschiedener Gesetze und Regelungen für die von nationalsozialistischen Verbrechen betroffenen Menschengruppen klären könnte«, sagte ein Sprecher dem RND.

Die Bundesregierung lehnte Zahlungen ebenfalls ab. In einem Antwortschreiben der im Bundesfinanzministerium zuständigen Unterabteilungs­leiterin Eva-Maria Meyer heißt es: »Die schrecklichen Umstände von Depor­tationen im Zuge der Verfolgung, die vielfach durch Züge, vielfach aber auch auf anderen Wegen erfolgten, sind in den verschiedenen gesetzlichen und außergesetzlichen Regelungen mitbedacht. Die Deportation als solche kann als Teil des gesamten Verfolgungsprozesses deshalb nicht gesondert ­teilentschädigt werden.«

Mullers Engagement offenbart die Schwierigkeiten, die mit der »Aufarbeitung« einhergehen, sobald sie nicht nur symbolisch erfolgen soll. So perfide die peinlich genauen Berechnungen der Deutschen Reichsbahn für den Transport in den Tod waren, so ungeklärt sind die Zuständigkeiten, wenn die Opfer und ihre Nachkommen eine materielle Anerkennung beziehungsweise das für den Transport gezahlte Geld zurückfordern.

Das Jugendbildungszentrum Schliersee der Gewerkschaft IG Metall organisierte vorige Woche zusammen mit dem AK Distomo ein Gespräch mit Muller, dessen Motto diesen mit dem Satz »Nur wer zahlt, meint es ernst« ­zitierte. Der Arbeitskreis engagiert sich für die Entschädigung der Opfer von Naziverbrechen in Griechenland. Bei der Veranstaltung drückte er die Hoffnung aus, dass die Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung seiner Forderung nachgeben werden.

Mullers Eltern wurden von den deutschen Besatzern in das Durchgangslager Westerbork verschleppt. Im ­Januar 1943 brachten die Nazis sie schließlich in einem Viehwaggon der Deutschen Reichsbahn nach Auschwitz und ermordeten sie dort. Muller entkam dem Tod nur knapp, da er aus der Hollandschen Schouwburg, einem ehemaligen Theater in Amsterdam, das als Sammelstelle für den Weitertransport unter anderem in das Durchgangslager Westerbork diente, heraus­geschmuggelt und danach versteckt wurde. Bis zum Kriegsende überlebte er unter widrigen Umständen bei ­einem Bauernpaar. Bis in die neunziger Jahre schwieg Muller über diese Erlebnisse.

Die Deutsche Bahn AG hat sich bereits in einem früheren Fall kompromisslos gezeigt. 2009 lehnte das Unternehmen die Forderung des gemeinnützigen Vereins »Zug der Erinnerung« ab, Geld für die Überlebenden von Deportationen zur Verfügung zu stellen. Der Verein stützte seine Forderung auf einem Gutachten über die aus Deportationen erzielten Einnahmen der Deutschen Reichsbahn, die auf heutige Verhältnisse umgerechnet mit etwa 445 Millionen Euro beziehungsweise mehr als zwei Milliarden Euro inklusive Zinsen beziffert wurden. Der Verein organisierte in den Jahren 2007 bis 2013 eine gleichnamige Wanderausstellung in einem Museumszug, die an die Deportation Hunderttausender Kinder aus Deutschland und Europa erinnerte.

»Juristisch mag es durch verschiedene rechtliche Konstruktionen vielleicht keinen Rechtsnachfolger geben«, sagte Anwalt Hagedorn im Interview mit dem RND. »Unbestreitbar ist doch aber, dass die Bahn nach dem Krieg die ­Monopolposition, die Schienen und das Vermögen der Reichsbahn übernahm, um damit zu wirtschaften. Und die hatte sich an den Deportierten ­bereichert.«