In Henstedt-Ulzburg (Schleswig-Holstein) fuhr ein 19jähriger drei Teilnehmer ­einer Anti-AfD-Kundgebung an

Die wollen nur erschrecken

In der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Henstedt-Ulzburg fuhr ein 19jähriger drei Teilnehmer einer Anti-AfD-Kundgebung mit einem Pickup-Truck an. Polizei und lokale Medien sprachen zunächst von einem Unfall. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft auch wegen gefährlicher Körperverletzung.

Drinnen sprach Jörg Meuthen, draußen hatten sich 300 Gegendemonstranten zu einer Kundgebung versammelt. Ort dieses Geschehens am 17. Oktober war das Bürgerhaus der Kleinstadt Henstedt-Ulzburg (Schleswig-Holstein), dorthin eingeladen hatte der AfD-Ortsverband des Kreises Segeberg, zu dem Henstedt-Ulzburg gehört. Zeugen sagten aus, vier Besucher hätten beim Verlassen des Bürgerhauses die Gegenkundgebung durch Sprüche gestört (»Ja, wir sind rechts!«), seien deswegen von der Anmelderin des Platzes verwiesen und – offenbar ohne Widerstand – von der Kundgebung weggeleitet worden.

Die Darstellung, die mehrere Lokalmedien und der NDR von der Polizei über­nah­men, erinnert daran, wie neo­­na­zistische Angriffe in den neun­­ziger Jahren herun­tergespielt wurden.

Auf dem Weg zu den geparkten Autos hätten die vier aber noch Aufkleber der rechtsextremen Kampagne »Ein Prozent« mit dem Aufdruck: »Antifa – Merkels Schlägertrupp« an Laternen geklebt, hieß es. Als sie von Demonstra­tionsteilnehmern zur Rede gestellt wurden, erreichten zwei der vier mutmaß­lichen AfD-Sympathisanten ihr Fahrzeug, einen VW Amarok, die anderen beiden gelangten nicht zu dem schweren Pickup-Truck. Der 19jährige Fahrer trat, wie Tim*, ein Augenzeuge, sagte, »sofort voll aufs Gas« und raste auf ihn und seinen Begleiter zu, die sich auf dem Gehweg befanden. Tim gelang es, zur Seite zu springen, der Pickup traf ihn trotzdem; auch sein Begleiter wurde verletzt. Beide hatten Glück, dass ihre Blessuren nicht noch ernster ausfielen. Der Wagen sei, ohne abzubremsen, einfach weitergefahren, und habe noch zwei weitere Kundgebungsteilnehmer, die wegliefen, verfolgt und einen von ihnen angefahren. Dieser Angefah­rene musste stationär im Krankenhaus versorgt werden, wurde aber offenbar nach kurzer Zeit wieder entlassen.

Alle tragen Folgeschäden davon, neben physischen (Tims Wirbelsäule ist seither beeinträchtigt und wird weiter behandelt) auch psychische. Die Opfer sprechen von einem »gezielten Angriff«. Der Täter sei noch einige Meter weitergefahren, habe dann angehalten und beim Aussteigen aus seinem Fahrzeug Tim breit angegrinst. Der Fahrer wurde am Unfallort von herbeieilenden Polizisten festgenommen; dabei gaben diese einen Warnschuss ab. Nach Polizeiangaben hätten mehrere aufgebrachte Personen »durch bedrohliches und aggressives Auftreten« die Festnahme gestört, so dass die Beamten und Beamtinnen die Lage mit dem Warnschuss unter Kontrolle zu bringen versuchten. Dieser Darstellung des Hergangs widersprechen Zeugen deutlich.

Der 19jährige Autofahrer stammt aus dem Raum Elmshorn und behauptet dem Hamburger Abendblatt vom 19. Oktober zufolge, dass er seine zwei Be­gleiter mit dem Auto befreien wollte, die »von Antifa-Leuten eingekesselt und festgehalten worden seien«. Daher seien sie auf die Menschengruppe zugefahren. »Die holen wir uns«, habe er zu seinem Beifahrer gesagt. Tim zufolge hätten sich die beiden Begleiter des Fahrers, die dieser angeblich »holen« wollte, nach dem Vorfall bei ihm entschuldigt und seien sichtlich schockiert gewesen.

Insgesamt unterscheiden sich die Angaben von Zeugen und Polizei über die Tatumstände und den Ablauf stark. So sprach die Polizeidirektion Bad Segeberg in einer Pressemitteilung vom selben Tag zunächst davon, dass »Demonstranten der rechten und linken Szene« aneinandergeraten seien, dabei sei eine Person, die dem linken Lager zuzurechnen sei, »im Rahmen eines Verkehrsunfalls« schwer verletzt worden. (Glücklicherweise stellte sich heraus, dass es sich nur um eine leichte Verletzung handelte.) Diese Darstellung übernahmen Lokalmedien und der NDR. Das erinnert stark daran, wie neonazis­tische Angriffe in den neunziger Jahren heruntergespielt wurden, als Vorstadtbalgereien unter Jugend­lichen, gleich ob rechts oder links.

Am 22. Oktober titelte das Hamburger Abendblatt: »Fahrer wollte Demons­tranten offenbar nur erschrecken«. Davon gingen Staatsschutzermittler aus, weil der 19jährige »zwar mit Absicht, aber langsam« auf seine Opfer zugefahren sei. Die Möglichkeit eines Unfalls scheine ausgeschlossen. Doch auch ein Anschlag komme »als Tatmotiv nun kaum noch in Frage«. Zuvor hatte Landespolizeidirektor Michael Wilksen in einer Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses des Kieler Landtags geäußert, es spreche »vieles dafür, dass das Fahrzeug gezielt eingesetzt wurde« (Hamburger Abendblatt, 21. Oktober).

Die Kieler Staatsanwaltschaft hat nun die Ermittlungen übernommen und führt diese nicht nur wie anfangs wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, sondern auch wegen gefährlicher Körperverletzung; zudem wird überprüft, ob ein Tötungsvorsatz und eine politische Tatmotivation vorliegen. Ein Sachverständiger untersucht dafür Fahr- und Bremsweg sowie das Tempo des Autos. Die Polizei sucht nach weiteren Zeugen; dabei interessiert sie vor allem das »Vor-Tatgeschehen«, genauer die Frage, ob es zu Auseinandersetzungen zwischen Kundgebungsteilnehmern und dem Fahrer gekommen war, bevor dieser losfuhr.

Heidi Beirich, Chief Strategy Officer des Global Project Against Hate and Extremism und seit langem Leiterin des Intelligence Project des US-amerikanischen Southern Poverty Law Center (SPLC) in Alabama, bezeichnet Autoattacken als »wachsendes Problem. Seit dem Autoangriff in Charlottesville gab es einige Dutzend weitere Attacken dieser Art.« Im Jahr 2017 hatte ein Neonazi Heather Heyer während einer ­Demonstration in Charlottesville mit einem Sportwagen erfasst und getötet, es gab weitere 35 Verletzte. Dieser Terroranschlag erschütterte die Welt­öffentlichkeit. Doch Teile der internationalen rechtsextremen Szene feierten ihn, Memes davon fanden weite Verbreitung.

Auch in Deutschland sind Angriffe auf Migranten und antifaschistische Demonstrierende mit Autos keine überraschende Neuigkeit. Beispielsweise wurde eine Antifa-Demonstration in Salzwedel 2018 mit einem Auto an­gegriffen. Schlagzeilen machte die Bottroper Schreckensfahrt in der Silvesternacht desselben Jahres mit acht Verletzten, bei der der Fahrer klar beabsichtigte, Migranten zu töten. Und in diesem Jahr gab es einen Autoangriff auf Migranten in Guben.

Gideon Botsch, der Leiter der Emil-­Julius-Gumbel-Forschungsstelle Anti­semitismus und Rechtsextremismus am Moses-Mendelssohn-Zentrum der Universität Potsdam, meint, ein Auto sei »ein Werkzeug at hands, das man nicht extra beschaffen und präparieren muss, um es zur Waffe zu machen«. Damit eine Autoattacke als Rechtster­rorismus bewertet werde, »müsste aber doch ein Element von Planung dazukommen. Ferner muss die Tat wohl doch auch kommuniziert werden, gerade in diesem Bereich, um nicht als ›Unfall‹ oder ›Kontrollverlust‹ gewertet zu werden.« Dass eine politische Wertung solcher Taten kaum stattfindet, habe, so Botsch, damit zu tun, dass Rechtsextreme nach wie vor unterschätzt würden: »Offenbar haben wir, hat vor allem die Polizei, immer noch nicht verstanden, dass rechtsextreme Akteure von Gewalt nicht nur reden, sondern sie auch anwenden.«

* Name von der Redaktion geändert.