Im Gespräch mit Alina Kolar, María Inés Plaza Lazo und Pauł Sochacki über die Straßenzeitung »Arts of the Working Class«

»Uns interessiert die ökonomische Realität von Kunst«

Alina Kolar, María Inés Plaza Lazo und Pauł Sochacki geben seit dem Frühjahr 2018 in Berlin die Straßenzeitung »Arts of the Working Class« heraus. Diese fällt unter den anderen zumeist von Obdachlosen und Armen verkauften Berliner Straßenzeitungen, wie die seit 1995 ­erscheinende »Motz« oder die seit dem Herbst 2017 erscheinende »Karuna Kompass«, durch ihren Schwerpunkt auf Kunst und durch ihre Mehrsprachigkeit auf. Mittlerweile erscheint sie nach eigenen Angaben in ­einer Auflage von 37 000 Exemplaren und ist in Berlin, London, Los Angeles, New York, Helsinki, Vienna, Graz, Quito, Toronto und Neu Delhi erhältlich. Die »Jungle World« sprach mit den Herausgeberinnen und ­Herausgebern über Konzept und Absicht ihres Zeitungsprojekts.

Mittlerweile ist die 13. Ausgabe Ihrer Zeitung erschienen. Wie läuft eine Straßenzeitung inmitten einer Pandemie?

Alina Kolar: Zu Beginn der Pandemie war der Straßenverkauf schwierig. Über den Sommer lief das Geschäft wieder besser. Es stellt sich natürlich die große Frage, wie das im Winter bei steigenden Infektionszahlen aussehen wird. Wir haben dieses Jahr auch damit zu kämpfen, dass große Institutionen, Museen, Kunstvereine weniger Geld haben, um Ausstellungen zu bewerben, vor allem wenn diese womöglich nicht stattfinden können.

María Inés Plaza Lazo: Den Arsch hat uns die Stadt Berlin gerettet, weil wir einen mit 10 000 Euro dotierten Preis der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa erhielten, dessen Verleihung das Netzwerk freier Berliner Projekträume und -initiativen organisiert. Wir haben es in dieser Zeit als unsere Pflicht gesehen, weiter zu arbeiten und zu drucken wie normal. Viele unsere Verkäufer und Verkäuferinnen verkaufen seit dem lockdown neben der Motz und der Karuna Kompass auch Arts of the Working Class. Das lag auch am unregelmäßigen Erscheinen der anderen Straßenmagazine.

Auf den Straßen und in den U-Bahnen Berlins ist mittlerweile ein vielseitiger Markt für Straßenzeitungen entstanden. Was ist das Besondere an Eurem Projekt?

MIPL: Letztlich sind wir nicht nur eine Straßenzeitung, sondern eine Publikation über Kunst und Gesellschaft, Reichtum und Armut. Wir leben hauptsächlich von Anzeigen. Wir arbeiten alle selbständig in einem kleinen Team und versuchen, unsere Bezahlung am Mindestlohn auszurichten. Eine stabile Struktur haben wir noch nicht. Bei uns können alle mitgestalten. Das gilt auch für unsere Verkäufer und Verkäuferinnen.

Pauł Sochacki: Karuna Kompass und Motz haben eigene Geschäfte. Wir haben ein Büro im Wedding. Ansonsten sind an verschiedenen Kunst-Locations wie dem Kreuzberg Pavillon Stapel der Zeitschrift deponiert. Sie sind für alle frei zugänglich und können zum Straßenverkaufspreis von 2,50 Euro verkauft werden (der Ladenpreis beträgt 3,50 Euro, Anm. d.Red.). Es gibt Austausch und Feedback bei uns im Büro, wir kennen viele Verkäufer und Verkäuferinnen persönlich.

AK: In Berlin existiert eine dynamische Kultur von Straßenzeitungen, die ziemlich gut funktioniert. So etwas gibt es in anderen Städten nicht. Uns geht es darum, Kunst im öffentlichen Raum erfahren zu können und zu kommunizieren. Manche unserer Verkäufer und Verkäuferinnen lesen die Zeitung, andere nicht. Wenn sie uns Feedback geben, geht es aber tatsächlich viel um die Inhalte, das Cover, die Sprache der Zeitung, die Interaktion mit den Menschen in der Stadt.

Es scheint trotz allem eine klare Arbeitsteilung zwischen der intellektuell-künstlerischen Arbeit und dem Vertrieb als Dienstleistung zu geben.

MIPL: Nochmal: Jeder und jede kann dazukommen und es ist keine Selbstverständlichkeit, dass das funktioniert. Wie gesagt, wir verstehen die Zeitung als Angebot. Das ist uns wichtig.

PS: Die Verkäufer und Verkäuferinnen sind sehr unterschiedlich. Es gibt welche, die beim Verkauf auf der Straße stark sich selbst und ihre persönliche Geschichte einbringen und es gibt Leute, mit denen wir uns zum Interview verabreden, die Texte schreiben wollen. Es gibt aber auch Menschen, die aufgrund ­ihrer prekären Lage kaum mehr etwas anderes schaffen als rauszugehen und ein bisschen Geld zu sammeln.

Werden Sie als Konkurrenz wahrgenommen?

MIPL: Es gab zunächst viel Misstrauen. Arts of the Working Class erzeugt einen starken Kontrast, weil die von vielen als Luxus wahrgenommene Kunst und Kultur mit der Prekarität zusammenkommt. Gleichzeitig wird kritisiert, wir würden das Format der Straßenzeitung als bloßes Alibi verwenden und zur Reproduktion einer Ausbeutungsstruktur beitragen. Aber die Kulturlandschaft als solche ist von Ausbeutung geprägt und darauf wollen wir mit unserer Zeitung explizit aufmerksam machen. Informelle Arbeit gibt es ja nicht nur unter extremen Lebensumständen, wie etwa in der Obdachlosigkeit. Sie ist alltäglich auch für frei arbeitende Künstlerinnen oder Kuratoren.

PS: Die Nischen sind sehr klar definiert. Wir sind durchaus eine Konkurrenz für Kunstmagazine mit einem eingegrenzten Publikum, welches zumeist nicht prekär lebt. Es ist schwierig, in diesen Magazinen Themen wie Prekarität, Rassismus oder Armut zu verhandeln, ohne in eine komplizierte Situation zu kommen. Straßenzeitungen sind dagegen oft Teil von sozialen Organisationen, beschäftigen sich auch inhaltlich mit Obdachlosigkeit und versuchen, das Image von Obdachlosen zu verbessern.

AK: Andere Straßenzeitungen sehen uns als Konkurrenz, was wir überhaupt nicht sein wollen. Wir versuchen das gesellschaftliche Dilemma klar und bewusst zu thematisieren, in dem wir alle stecken.

Welche Kritik hat die Kunstszene an Ihrer Zeitung?

MIPL: Die Leute sind beleidigt, dass ihre Themen plötzlich keine elitären mehr sind, sondern so aufbereitet werden, dass jede und jeder sie lesen und als Herausforderung annehmen könnte. Die Diskussion über den Klassenbegriff erfolgt heute vor allem im akademischen Bereich. Das Beleidigtsein deute ich als Ausdruck eines in­härenten Klassismus.

PS: Dem liegt auch die Mutmaßung zugrunde, dass die akademische Sprache nicht verstanden wird oder erst gar nicht verstanden werden soll.

AK: Uns geht es um die Frage des Zugangs zu künstlerischen, gesellschaft­lichen und theoretischen Themen, den wir auf unterschiedlichen Ebenen durchexerzieren. Unsere Zeitung ist multilingual. Viele Themen sind kompliziert und komplex, wie die Welt es eben ist. Wir begreifen die Zeitung als Angebot, das es sonst nicht auf den Straßen gibt. Bildung, Kunst und Kultur sowie die Diskussion darüber müssen allen gehören.

Ich denke bei dem Zeitungsnamen an Proletkult, den sozialistischen Realismus sowie kommunistische Ästhetik und Agitation in der Weimarer Republik. Wie knüpfen Sie an dieses Erbe an?

MIPL: Es wäre verlogen zu behaupten, man könne an diese Tradition ungebrochen anknüpfen. Das damalige Verständnis von Arbeiterklasse entspricht nicht dem gegenwärtigen Verständnis von Arbeit beziehungsweise ständig neu enststehenden Begriffen wie beispielsweise dem der »kreativen Klasse«. Wir beobachten eine Prekarisierung des gesamten Systems. Der Titel der Zeitschrift muss als Frage verstanden werden, was die Arbeiterklasse heute sein soll.

PS: Ausbeuterische Arbeitsbedingungen heute sind sehr vielfältig. Was die historischen proletarischen Kunstbewegungen auszeichnete, ist ihre Durchlässigkeit und ihr Realitätsinteresse. Das ist unser Bezugspunkt. Uns interessiert die ökonomische Realität von Kunst. Was muss man verändern, um innerhalb des Kunstbetriebs Prekarität und Ausbeutungsverhältnissen entgegenzuwirken? Es ist diese Öffnung, die, bei allen Unterschieden des gesellschaftlichen Kontextes, mit den historischen Strömungen der proletarischen und kommunistischen Kunst verbindet.

 

Die »New York City Street News« war im Jahr 1989 die erste Straßenzeitung überhaupt. Ihre Gründung erregte in den USA viel Aufmerksamkeit. Es folgte 1991 »The Big Issue« in Großbritannien. Mittlerweile werden ähnliche Zeitungen in über 30 Ländern veröffentlicht, die meisten davon in den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Bundesweit gibt es rund 40 Straßenzeitungen. Die meisten von ihnen erscheinen derzeit allerdings wegen der Pandemie nicht. Das Ziel von Straßenzeitungen war es, Menschen in sozialer Not, meist Obdachlosen, oft auch Asylbewerbern oder Langzeitarbeitslosen, eine gewisse Perspektive zu geben. Sie sollen über den Verkauf ein wenig Geld verdienen können. Verkäuferinnen und Verkäufer erhalten dabei in der Regel 50 Prozent der Einnahmen. In einigen Fällen stellen die Verlage die Straßenverkäufer an, sodass sie ein festes Einkommen haben und krankenversichert sind. Auch die Organisationsstrukturen der Zeitungen sind unterschiedlich, ebenso, wie sie sich finanzieren und welche inhaltlichen Schwerpunkte sie setzen. Straßenzeitungen gibt es in vielen großen Städten in Deutschland: die »Motz« in Berlin, »Hinz & Kunzt« in Hamburg, den »Draussenseiter« in Köln oder »Biss« in München.

Straßenzeitungen haben sich weltweit zu dem Netzwerk International Network of Street Papers (INSP) zusammengeschlossen. Der INSP gehören 112 Straßenzeitungen aus 35 Ländern an.http://artsoftheworkingclass.org/