Die Türkei will das Flüchtlings­abkommen mit der EU neu verhandeln

Spielbälle im Mittelmeer

Tausende Flüchtlinge kamen im März an die türkisch-griechische Grenze, nachdem der türkische Präsident Erdoğan diese für geöffnet erklärt hatte. Griechenland setzte daraufhin das Asylrecht aus. Es ist zweifelhaft, ob der Flüchtlingspakt der Europäischen Union mit der Türkei unter diesen Umständen noch Bestand haben kann.

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende Februar die Grenzen für Flüchtlinge in Richtung Griechenland öffnete, erwischte er die führenden europäischen Politiker auf dem falschen Fuß. Die zögerlichen und ängstlichen Reaktionen rühren daher, dass rechte Parteien die Flüchtlingsfrage funktionalisieren konnten. Die Regierungen der EU-Staaten werden entweder von solchen Parteien gestellt oder sie fürchten deren weiteres Erstarken. Ein weiterer Grund ist, dass Europa im syrischen Bürgerkrieg untätig geblieben war. Als der »Islamische Staat« (IS) auftauchte, verloren im Jahr 2015 viele Syrerinnen und Syrer endgültig die Hoffnung auf eine Veränderung in ihrem Heimatland und damit auf eine Rückkehr. Sie machten sich zusammen mit Flüchtlingen aus anderen Ländern auf den Weg nach Europa, das nicht darauf vorbereitet war, eine so große Zahl von Menschen aufzuhalten.

Erdoğan hat jetzt nicht nur die Grenze wieder geöffnet. Im arabischsprachigen Programm des staatlichen türkischen Fernsehsenders TRT erschien eine Karte, die verschiedene mögliche Routen nach Frankreich zeigte. Busse brachten die Flüchtlinge von Istanbul aus kostenlos an die griechische Grenze. Nach griechischen Angaben wurden sie auch mit Schneidewerkzeugen zum Durchtrennen von Zäunen ausgestattet. Der türkische Rote Halbmond versorgt die im Niemandsland Gestrandeten mit Lebensmitteln.

Erdoğan hat seine Pläne, die gesamte Grenzregion mit Flüchtlingen aus der Türkei zu besiedeln, nicht aufgegeben.

Im Netz kursierte auch ein Video, das zeigt, wie Flüchtlinge gezwungen werden, aus einem Kleinbus auszusteigen. Die Flüchtlinge sprechen Arabisch, Persisch und gebrochen Türkisch. Zwei Männer in Uniformen mit aufgenähter türkischer Flagge fordern sie auf auszusteigen. Doch die Flüchtlinge haben Angst, in die Boote zu klettern. Darauf schreit einer der Männer mehrmals auf Türkisch: »Warum seid Ihr denn gekommen?« Er zieht eine Pistole, lädt sie durch und hält sie einem schätzungsweise 13jährigen Jungen ins Genick. Der Junge zuckt zusammen und steht auf. Auch andere Flüchtlinge verlassen den Bus. Damit endet die Szene. Wer das Video erstellt und wo sich dies abgespielt hat, ist unbekannt. Eingeblendet wird auf Persisch das Wort »Reporter«. Doch bleibt unklar, wer sich dahinter verbirgt. Persisch wird auch in großen Teilen Afghanistans gesprochen und einige der Flüchtlinge dürfte von dort kommen. Es gibt allerdings keine Möglichkeit, die Authentizität des Videos zu überprüfen.

Erdoğan dirigiert die Flüchtlinge aus einer Reihe von Gründen an die Grenze. Zum einen will er, dass die EU künftig direkt an die türkische Regierung zahlt anstatt an Hilfsprojekte, was dann nur indirekt der türkischen Wirtschaft zugutekommt. Außerdem sind viele Türkinnen und Türken der Flüchtlinge überdrüssig. Dazu gehören auch jene, die befürchten, dass Erdoğan durch die Einbürgerung strenggläubiger Flüchtlinge loyale Anhänger gewinnen will. Bilder von verzweifelten Frauen und Kindern an der Grenze sind auch eine gute Gelegenheit, die EU und europäische Politiker, die Erdoğan kritisieren, in den türkischen Medien zu diskreditieren. Ihnen wirft er Bigotterie vor: Das seien also die Europäer, die laut schreien, wenn ein Osman Kavala freigesprochen und am Gefängnistor aufgrund einer völlig neuen Beschuldigung wieder inhaftiert wird, ist der Tenor der Propaganda.

Vor allem aber dürfte es ein Versuch Erdoğans sein, die Unterstützung der EU für seine Syrien-Politik zu gewinnen, vor allem für den Erhalt der Rebellenprovinz Idlib als türkischer Einflusszone. Auch seine Pläne, die gesamte Grenzregion mit in die Türkei Geflüchteten zu besiedeln, hat Erdoğan nicht aufgegeben. Von der EU will er Geld für die Ansiedlung der Flüchtlinge, aber noch wichtiger ist ihm, dass die EU das Projekt politisch unterstützt. Das bedeutete die europäische Zustimmung zu ethnischen Säuberung, die mancherorts bereits begonnen hat. Außerdem nähme die EU hin, dass de facto ein Teil Syriens zu einem Protektorat der Türkei würde, und dies ohne einen Ansatz für eine politische Lösung, weder für das gesamte Syrien noch für die abgetrennten Gebiete.

Erdoğan begründet die Anwesenheit der türkischen Truppen in Syrien mit Terrorismusbekämpfung, Selbstverteidigung und humanitärer Intervention, jüngst führte er zudem das Abkommen von Adana an. Nichts davon ist stichhaltig. Zum Abkommen von Adana, das 1998 einen türkisch-syrischen Konflikt wegen des Wirkens der PKK im Grenzgebiet beendete, soll es nach türkischer Darstellung ein geheimes Zusatzprotokoll geben, das die Verfolgung von Terroristen bis zu fünf Kilometer auf syrischem Gebiet erlaube. Das syrische Regime bestreitet die Existenz des Zusatzprotokolls. Doch selbst wenn man annimmt, dass es existiert und völkerrechtlich gültig ist, kann es schwerlich die dauerhafte Kontrolle weiter Gebiete Nordsyriens legitmieren.

Nun haben EU und Nato schon mehrfach die Fakten ignoriert und Erdoğan das Recht auf »Selbstverteidigung« und »Terrorismusbekämpfung« in Syrien zugebilligt. Das Kalkül des türkischen Präsidenten ging auf, weil die Opfer Kurden waren und es jüngst gegen das syrische Regime ging. Die Türkei bei einer militärischen Konfrontation mit Russland zu unterstützen, fällt hingegen alles andere leicht.

Erdoğan scheint auf die Unterstützung der EU auch nicht viel zu geben. Auf dem Rückflug aus Brüssel sagte er vor mitreisenden Journalisten, er habe dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgeschlagen, dass die Türkei die Kontrolle über die syrischen Ölquellen erhalten solle. Mit den Einnahmen wolle er Häuser für syrische Flüchtlinge in der von ihm angestrebten und teilweise bereits eroberten »Sicherheitszone« an der Grenze bauen. Das würde der türkischen Bauindustrie helfen, das Flüchtlingsproblem lösen und die Kurden endgültig von der Grenze fernhalten. Im Gegenzug könnte Erdoğan einen Teil seiner islamistischen Verbündeten in Idlib aufgeben. Auch dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, so bekundete Erdoğan, wolle er diesen Vorschlag unterbreiten. US-Truppen bewachen derzeit die Ölfelder. Von den Einnahmen erhält auch die kurdische Verwaltung einen Teil. Trump will aber die US-Truppen abziehen. Der syrische Diktator Bashar al-Assad, der das Öl ebenfalls dringend braucht, würde auf russischen Druck nachgeben, hofft Erdoğan.

Flüchtlinge sind aber nicht nur für Erdoğan ein politisches Druckmittel. Auch Putin kann unterstellt werden, dass er unter anderem die Türkei und die EU destabilisieren will, indem er Millionen Menschen zur Flucht zwingt; zumindest dürfte ihm dieser Effekt nicht ungelegen kommen.

Hier vermischen sich taktische Erfordernisse und strategische Überlegungen. Wenn die russische und die syrische Luftwaffe wiederholt Krankenhäuser und Wohnviertel bombardieren, zwingen sie Menschen zur Flucht. Zurück bleiben bewaffnete Rebellen, die nun leichter zu bekämpfen sind. Zugleich hat die Flucht auch politische Effekte, die sicherlich nicht unerwünscht sind. Es nützt Assads Regime, wenn der Anteil der Bevölkerung, der ihn ablehnt, sich durch Flucht verringert.

Der derzeitige Waffenstillstand in Idlib gleicht in vielem dem vorherigen. Russland hat sich und Assad wieder das Recht vorbehalten, Terroristen weiter zu bekämpfen. Erdoğan soll dem Regime die Straße M4 von Saraqib nach Latakia öffnen, was ihm schwerfallen dürfte. Sollte die Türkei sich noch einmal militärisch gegen eine Eroberung Idlibs stellen, müsste Erdoğan mehr türkische Truppen ins Gefecht bringen, was mehr Gefallene bedeuten würde. Das ist in der Türkei unpopulär. Wenn am Ende zwei oder 2,5 Millionen Flüchtlinge an der türkischen Grenze stehen, kann die EU das wiederum nicht einfach ignorieren.

Rechte Verschwörungsideologen hängen seit Jahren der Idee an, Flüchtlingsströme seien eine politische Waffe, um Gesellschaften zu untergraben. Mittlerweile werden sie tatsächlich als politisches Druckmittel eingesetzt. Aber anders als es die rechten Theorien behaupten, ist nicht die Ankunft von Flüchtlingen in Europa das Problem, sondern die panische Abwehrreaktion. Flüchtlinge sind Menschen in Not, die lieber zu Hause geblieben wären. Wenn hingegen ein Menschenrecht wie das auf Asyl suspendiert wird, wenn auf den Ägäis-Inseln neu angekommene Flüchtlinge ohne gesetzliche Grundlage eingesperrt werden, dann wirft das nicht nur ein schlechtes Licht auf das europäische Projekt – man muss auch fürchten, dass Menschenrechte eines Tages auch für andere beschnitten werden.