Die Filme der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay in einer Werkschau

Abgründige Kindheiten

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Die Schottin kam über die Fotografie zum Film. Das Interesse für das Einzelbild, die Einstellung und das Momenthafte hat sie auch im Medium des Bewegtbildes weiterverfolgt. Ihre Filme sind fragmentarisch; es gibt Ellipsen, Zeitsprünge und Jump Cuts, die Bildausschnitte sind oft ungewöhnlich und mitunter gar leicht »daneben«. Alle Figuren und Elemente – Menschen wie Dinge – stehen gleichberechtigt nebeneinander. Eine Fliege auf einer Raufasertapete oder eine zwischen zwei Fingern zerdrückte Jellybean erhalten die gleiche ­Aufmerksamkeit wie ein toter Körper. Mit den Kurzfilmen, »Ratcatcher« und dem Nachfolgefilm »Morvern Callar« (2002) führte Ramsay einen Lyrizismus in den britischen Sozial­realismus ein, der die innere Erlebniswelt der Figuren durch eine gesteigerte Wahrnehmung erzählt, anstatt sie psychologisch auszuformulieren. 

»Morvern Callar«ist ein auf un­programmatische Weise feministischer Film über die Verweigerung beziehungsweise Überschreibung von Trauerarbeit. Die Supermarktverkäuferin Morvern Callar (Samantha Morton) verliert ihren Freund, der Selbstmord begeht. Anstatt sich dem Schmerz hinzugeben, setzt sie ihren Namen unter seinen unveröffentlichten Roman, schickt ihn an einen Verlag und geht mit dem für das Begräbnis vorgesehenen Geld auf Reisen.

»We Need to Talk About Kevin« (2011) markiert einen Richtungswechsel im Werk. Die Regisseurin verließ das Milieu der schottischen Arbeiterklasse und wendete sich einer bürgerlichen Kleinfamilie in einer US-amerikanischen Vorstadt zu. Und sie begab sich in die Nähe des Genrekinos, wobei sie Psychodrama und Horrorkino in ein unauflösbares Spannungsverhältnis setzte. Kevin zeigt sich schon im Babyalter als kleines Monster, das mit voller Absicht in die eben gewechselten Windeln scheißt und 17jährig an seiner Highschool ein Massaker verübt. Der Film erzählt die Vor- und Nachgeschichte der Tat aus der Perspektive der Mutter (Tilda Swinton), ohne die Ursachen zu ergründen. Flashbacks dringen immer mehr in die äußere Realität ein, zunächst noch bruchstückhaft, unsortiert, verschwommen und höchst subjektiv, bis sie allmählich in eine kohärentere Form der Rückblende übergehen. Mit Bildern, die so virtuos wie eindringlich von elbstverlust, seelischer Last und dem verzweifelten Zusammensuchen von Erinnerungsfragmenten erzählen – durch Unschärfen, Zeitlupen, abrupte Brüche, delirierende Sound- und Musikeffekte – schildert Ramsay ein Grauen, das noch nicht wirklich in der posttraumatischen Phase angekommen ist. Ihre Bildsprache drängt hier erstmals ins Wuchtige und Satte, das Rot von Tomaten wird schon in den ersten Bildern als schreiende Affektfarbe eingesetzt. »We Need to Talk About Kevin« will und kann das Verbrechen nicht erklären, die Er­zählung ringt selbst unaufhörlich nach Luft.

In »You Were Never Really Here« finden die kleinen Tode im Rahmen eines hintergründigen Thrillers statt. Der von Phoenix gespielte Kriegsveteran und Auftragskiller Joe hat sich auf die Befreiung von Opfern von Sexhandel und Kinderprostitution spezialisiert. Er selbst ist ein von seiner Vergangenheit schwer beschädigter Mann in einem prallen, von Narben gezeichneten Körper. Mit asynchronen Bild- und Tonmontagen und dissonanten Klängen (der Soundtrack stammt von Jonny Greenwood) taucht der Film tief ein in das aufgewühlte Innenleben des Protagonisten. Ramsay lässt das Porträt von Joe jedoch nie in jene männliche Larmoyanz abgleiten, die in Racheerzählungen über »verletzte Seelen« so oft zu finden ist. Stattdessen zeigt sie immer wieder Sinn für einen grotesken, dabei zarten Humor – etwa wenn Joe einen Mann, auf den er gerade geschossen hat, in dessen letzten Minuten die Hand hält. Im Radio dudelt Musik, mit brüchiger Stimme singen sie gemeinsam »I’ve Never Been to Me« von Charlene.

Die Werkschau im Kino Arsenal Berlin läuft noch bis 23. Oktober.