Die Filme der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay in einer Werkschau

Abgründige Kindheiten

Ein schmales Œuvre mit vielen Toten: Das Kino Arsenal in Berlin zeigt eine Werkschau der schottischen Filmemacherin Lynne Ramsay.

In den Filmen von Lynne Ramsay gibt es kleine und manchmal auch große, also richtige, manchmal auch richtig heftige Tode – Suizid, Unfalltod, Amoklauf, Auftragsmorde. Entscheidend sind die kleinen, in der Kindheit erfahrenen und ins Erwachsenenleben nachwirkenden Tode. »Small Deaths« nannte die aus Glasgow stammende Filmemacherin ­ihren ersten Kurzfilm aus dem Jahr 1996. Er erzählt in Momentaufnahmen von der Kindheit eines aus der Arbeiterklasse stammenden Mädchens, dessen Grundvertrauen durch drei Erlebnisse erschüttert wird. Dabei bekommt die Außenwelt von dem inneren Drama gar nichts mit. Bei Ramsay werden die kleinen Tode ganz im Stillen gestorben, das Leben geht weiter, aber nichts mehr wird danach sein wie zuvor. 

Die Familie ist bei Lynne Ramsay ein fragiler Organismus, dysfunktional, mitunter auch implosiv. Ein Gefühl der Verlorenheit ist ihren kindlichen wie auch den erwachsenen Figuren eigen. 

In ihrem Kurzfilm »Gasman« (1997) breiten sich im Leben eines Mädchens Irritation und Verunsicherung aus, bis sie zu einer schockhaften ­Erkenntnis führen. Es ist Weihnachten, der Vater nimmt seine beiden Kinder mit in den örtlichen Pub. Unterwegs werden ihm von einer unbekannten Frau zwei andere Kinder übergeben, die mit ihm auf merkwürdige Weise vertraut sind. Das Mädchen muss schmerzhaft begreifen, dass der Vater nicht der ist, den sie zu kennen glaubte. Auch hier kommt es zu keiner dramatischen Entladung, das traumatische Erlebnis hat vielmehr etwas Bohrendes, nach ­innen Gewendetes.

Die Familie ist bei Ramsay ein fragiler Organismus, dysfunktional, mitunter auch implosiv. Ein Gefühl der Verlorenheit ist den kindlichen wie auch den erwachsenen Figuren eigen. Das Spielfilmdebüt »Ratcatcher« (1999), eine Geschichte über kindliche Verlorenheit und Schuld in einer Glasgower Arbeitersiedlung Anfang der siebziger Jahre, findet dafür ein so schönes wie berührendes Bild. Gleich in der ersten Szene zeigt der Film in Zeitlupe einen Jungen, der sich in einen Wohnzimmervorhang einwickelt, bevor er mit einem harten Klaps auf den Hinterkopf in die familiäre Realität gestoßen wird. Als er aus dem Bild tritt, verharrt die Kamera so lange auf dem Vorhang, bis der Stoff sich wieder vollständig auseinandergefaltet hat. Die Abwesenheit des Kindes hallt in dem auf seltsame Weise »beseelt« wirkenden Objekt nach. Viele Jahre später wird sich der von Joaquin Phoenix gespielte Killer in Ramsays psychologischem Thriller »You Were Never Really Here« (2017) (bekannt auch unter dem Titel »A Beautiful Day«) immer wieder eine Plastiktüte über den Kopf ziehen, um die Erinnerungs an seine traumatische Kindheit zu ersticken.

Das zurzeit im Kino Arsenal in Berlin gezeigte Werk ist mit vier in zwei Jahrzehnten entstandenen Spielfilmen eher schmal. Dies hat zum einen mit Ramsays Kompromisslosigkeit zu tun, die es ihr erschwert, Finanzierungen für ihre Filme zu finden, zum anderen mit dem Chauvinismus des Filmbetriebs. Ramsay war immer wieder auch an großen Produktionen beteiligt, die sie aber verließ, da sie sie nicht zu ihren Bedingungen realisieren konnte. Dass alle ihre Filme in Cannes gezeigt und mit Preisen ausgezeichnet wurden, gilt in Hollywood offenbar nicht viel. »The Lovely Bones« wurde schließlich von Peter Jackson übernommen, auch der Frauenwestern »Jane Got a Gun« endete mit ihrem frühzeitigen Ausstieg. 

 

Die Schottin kam über die Fotografie zum Film. Das Interesse für das Einzelbild, die Einstellung und das Momenthafte hat sie auch im Medium des Bewegtbildes weiterverfolgt. Ihre Filme sind fragmentarisch; es gibt Ellipsen, Zeitsprünge und Jump Cuts, die Bildausschnitte sind oft ungewöhnlich und mitunter gar leicht »daneben«. Alle Figuren und Elemente – Menschen wie Dinge – stehen gleichberechtigt nebeneinander. Eine Fliege auf einer Raufasertapete oder eine zwischen zwei Fingern zerdrückte Jellybean erhalten die gleiche ­Aufmerksamkeit wie ein toter Körper. Mit den Kurzfilmen, »Ratcatcher« und dem Nachfolgefilm »Morvern Callar« (2002) führte Ramsay einen Lyrizismus in den britischen Sozial­realismus ein, der die innere Erlebniswelt der Figuren durch eine gesteigerte Wahrnehmung erzählt, anstatt sie psychologisch auszuformulieren. 

»Morvern Callar«ist ein auf un­programmatische Weise feministischer Film über die Verweigerung beziehungsweise Überschreibung von Trauerarbeit. Die Supermarktverkäuferin Morvern Callar (Samantha Morton) verliert ihren Freund, der Selbstmord begeht. Anstatt sich dem Schmerz hinzugeben, setzt sie ihren Namen unter seinen unveröffentlichten Roman, schickt ihn an einen Verlag und geht mit dem für das Begräbnis vorgesehenen Geld auf Reisen.

»We Need to Talk About Kevin« (2011) markiert einen Richtungswechsel im Werk. Die Regisseurin verließ das Milieu der schottischen Arbeiterklasse und wendete sich einer bürgerlichen Kleinfamilie in einer US-amerikanischen Vorstadt zu. Und sie begab sich in die Nähe des Genrekinos, wobei sie Psychodrama und Horrorkino in ein unauflösbares Spannungsverhältnis setzte. Kevin zeigt sich schon im Babyalter als kleines Monster, das mit voller Absicht in die eben gewechselten Windeln scheißt und 17jährig an seiner Highschool ein Massaker verübt. Der Film erzählt die Vor- und Nachgeschichte der Tat aus der Perspektive der Mutter (Tilda Swinton), ohne die Ursachen zu ergründen. Flashbacks dringen immer mehr in die äußere Realität ein, zunächst noch bruchstückhaft, unsortiert, verschwommen und höchst subjektiv, bis sie allmählich in eine kohärentere Form der Rückblende übergehen. Mit Bildern, die so virtuos wie eindringlich von elbstverlust, seelischer Last und dem verzweifelten Zusammensuchen von Erinnerungsfragmenten erzählen – durch Unschärfen, Zeitlupen, abrupte Brüche, delirierende Sound- und Musikeffekte – schildert Ramsay ein Grauen, das noch nicht wirklich in der posttraumatischen Phase angekommen ist. Ihre Bildsprache drängt hier erstmals ins Wuchtige und Satte, das Rot von Tomaten wird schon in den ersten Bildern als schreiende Affektfarbe eingesetzt. »We Need to Talk About Kevin« will und kann das Verbrechen nicht erklären, die Er­zählung ringt selbst unaufhörlich nach Luft.

In »You Were Never Really Here« finden die kleinen Tode im Rahmen eines hintergründigen Thrillers statt. Der von Phoenix gespielte Kriegsveteran und Auftragskiller Joe hat sich auf die Befreiung von Opfern von Sexhandel und Kinderprostitution spezialisiert. Er selbst ist ein von seiner Vergangenheit schwer beschädigter Mann in einem prallen, von Narben gezeichneten Körper. Mit asynchronen Bild- und Tonmontagen und dissonanten Klängen (der Soundtrack stammt von Jonny Greenwood) taucht der Film tief ein in das aufgewühlte Innenleben des Protagonisten. Ramsay lässt das Porträt von Joe jedoch nie in jene männliche Larmoyanz abgleiten, die in Racheerzählungen über »verletzte Seelen« so oft zu finden ist. Stattdessen zeigt sie immer wieder Sinn für einen grotesken, dabei zarten Humor – etwa wenn Joe einen Mann, auf den er gerade geschossen hat, in dessen letzten Minuten die Hand hält. Im Radio dudelt Musik, mit brüchiger Stimme singen sie gemeinsam »I’ve Never Been to Me« von Charlene.

Die Werkschau im Kino Arsenal Berlin läuft noch bis 23. Oktober.