Der Machtkampf in Venezuela verschärft die humanitäre Katastrophe

Die Not als Waffe

Hilfsgüter für Venezuela liegen in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta bereit. Doch der Präsident Nicolás Maduro lässt sie nicht ins Land. Sein Herausforderer Juan Guaidó gerät unter Druck.

Mexiko-Stadt. Wenn es um den Zustand seines Landes geht, lässt Nicolás Maduros keine Zweifel aufkommen. »Die humanitäre Krise in Venezuela ist eine Farce«, behauptete Venezuelas Präsident jüngst in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada. Diese Krise gebe es nicht, beteuerte er und sprach von hohen Beschäftigungsraten, vom Ernährungsprogramm Clap und von 30 000 Ärzten, die in Gemeinden tätig seien. Kein Wort verlor er über Zigtausende Unterernährte und 2,3 Millionen Geflüchtete oder darüber, dass chronisch Kranke ihre Medikamente im Nachbarland Kolumbien kaufen müssen; und auch kein Wort darüber, dass die Clap-Lebensmittelpakete häufig nicht ankommen und ohnehin nicht zum Überleben ausreichen. Nein, alles laufe gut im Land der bolivarianischen Revolution, mit der sein Vorgänger Hugo Chávez eine gerechtere ­Gesellschaft erschaffen wollte. Das ­Krisengerede sei nichts als ein Täuschungsmanöver der USA, behauptet der Präsident.

Zwischen 2014 und 2017 ist der Anteil von Militäroffizieren im Kabinett von 25 auf 48 Prozent angestiegen.

Maduro hat in diesen Tagen besondere Gründe, den Notstand zu leugnen. Spätestens seit die staatliche US-amerikanische Organisation USAID vergangene Woche Sattelzüge mit Lebensmitteln, Medikamenten und Sanitätsartikeln in die kolumbianische Grenzstadt Cúcuta geschickt hat, ist das Thema humanitäre Hilfe zum zentralen Kampfbegriff im venezolanischen Machtkampf geworden. Schon vorab hatte Venezuelas Nationalgarde einen Grenzübergang mit Containern und einem Tankanhänger verbarrikadiert. Die vermeintliche Hilfe diene den USA nur dazu, eine Militärintervention vorzubereiten, sagte Maduro. Die Venezolaner seien kein Volk der Bettler und brauchten keine Almosen.

»Das ist die absurde Reaktion eines Regimes, das sich nicht für seine Bürger interessiert«, konterte sein Gegenspieler Parlamentspräsident Juan Guaidó, der sich im Januar zum Interimspräsidenten erklärte. Der kolumbianische Außenminister Carlos Holmes Trujillo nannte die Blockade ein »Verbrechen«, US-Präsident Donald Trump sagte in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation, das sozialistische Regime habe das Land in Armut und Hoffnungslosig­keit gestürzt. Erneut schloss er eine militärische Intervention nicht aus.

Die Versorgungslage spitzt sich indes weiter zu. Neben dem wirtschaftlichen Desaster, das die Regierungen von Maduro und Chávez zu verantworten haben, entfalten neue US-Sanktionen ihre Wirkung. Wegen sinkender Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA fehlen im Haushalt Milliarden. 300 Millionen US-Dollar gehen dem Staat täglich verloren – Devisen, mit denen Reis, Maismehl und Thunfisch für die Clap-Pakete und Benzin bezahlt werden sollten.

Unrecht hat Maduro also nicht, wenn er Hilfslieferungen als »billige Show« bezeichnet. Auch Stéphane Dujarric, der Sprecher des UN-Generalsekretärs António Guterres forderte, humanitäre Aktionen dürften keinen politischen und militärischen Zielen dienen. Das aber ist kaum möglich in einer Situa­tion, in der der Machtkampf zwischen Maduro und Guaidó zunehmend so­zialen Charakter erhält immer mehr im ­sozialen Bereich ausgetragen wird. Schon jetzt ist deutlich, dass der noch amtierende Präsident diese Auseinandersetzung nur verlieren kann: Lässt er die Hilfslieferungen ins Land, bestätigt er die katastrophalen Zustände. Lehnt er sie ab, bietet das weiteren Anlass für internationale Kritik. Zudem drohen dann Hungerrevolten, die auch jene in den armen Vierteln erfassen könnten, die mit der Regierung noch nicht auf Konfrontation gegangen sind. Denn die Ausfälle von Strom und Wasser, die leeren Regale und die ständig steigende Inflation haben die bolivarianische ­Bewegung bereits viel Unterstützung gekostet. Auch in den ehemaligen ­Bastionen des Chavismus gab es Angriffe auf Sicherheitskräfte.

Maduro lässt keinen Zweifel daran, dass er für Auseinandersetzungen ­gewappnet ist: 1,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger seien in Milizen zur Verteidigung des Volkes organisiert, bis April sollen es zwei Millionen sein. »Sie haben ein militärisches Training, einen operativen Plan und sind auf ­jedes Szenario eingestellt«, prahlt der Staatspräsident mit Blick auf Trumps Kriegslärm, wohl wissend, dass seine Aufzählung auch bei potentiell Aufständischen ihre Wirkung nicht verfehlen dürfte. Und dann gebe es ja noch die »Colec­tivos«; sehr ehrliche, radikale und ­revolutionäre Leute, betont er. Vielen Venezolanern sind die paramilitärischen Gangs vor allem als brutale Kriminelle bekannt.

Auch die Armee stehe fest hinter der Revolution, sagt Maduro. Ob das stimmt, ist umstritten. Guaidó hat in der New York Times behauptet, er habe sich mit Armeeangehörigen getroffen und Amnestie für jene angeboten, die keine Verbrechen gegen die Menschheit ­begangen hätten. Eine ähnliche Position hat auch das oppositionelle und 2017 vom regimetreuen Obersten Gerichtshof entmachtete Nationalparlament eingenommen. Doch der Erfolg ist begrenzt. Lediglich ein Militärattaché, ein Oberst und ein Luftwaffengeneral wechselten bislang die Seiten. Dass, wie Guaidó behauptet, nur »der Flügelschlag eines Schmetterlings« fehle, ­damit das Militär die Seiten wechsle, ist zweifelhaft.

Schon Chávez war bemüht, möglichst viele hochrangige Soldaten an sich zu binden. Zahlreiche Ministerien, Behörden und staatliche Unternehmen wurden mit Militärangehörigen besetzt. Die Armee konnte mit hohen Haushalten vollkommen intransparent agieren, etwa im Bereich der Steuern und der Devisen im Transport- und Energie­sektor. Maduro hat diese Politik nach seiner Amtsübernahme 2013 fortgeführt. Sein Slogan: »Die bolivarianische Revolution ist eine militärische.« Zwischen 2014 und 2017 ist der Anteil von Militäroffizieren im Kabinett von 25 auf 48 Prozent angestiegen. In der Nahrungsmittelbranche, in der sich durch günstigere Wechselkurse für den internationalen Einkauf besonders viel Geld machen lässt, sind inzwischen nach Angaben der NGO Transparencia Venezuela 42 Unternehmen unter ­direkter Kontrolle des Verteidigungsministeriums.

2017 setzte Maduro einen General an die Spitze des Ölkonzerns PDVSA, der zuvor für repressives Vorgehen gegen Proteste verantwortlich war. Auch das umstrittene Projekt Arco Minera, mit dem die Regierung Bodenschätze im Amazonas abbauen will, wird von Militäroffizieren kontrolliert. Nach Einschätzung der Organisation »Insight Crime« werden diese Positionen ausgiebig für kriminelle Geschäfte genutzt. Zahlreiche Militärangehörige betrieben Treibstoff- und Drogenschmuggel, seien in korrupte Strukturen eingebunden und hätten hohe Geldsummen hinterzogen.

Privilegien, politische Macht und einträgliche kriminelle Geschäfte – Guaidó muss schon einiges bieten, damit die Generäle die Seiten wechseln. »Warum sollten sie für ein Linsen­gericht die Truppe opfern?« fragt die venezolanische Journalistin Cristina Marcano.

Möglicherweise sollte die von Guiadó unterstützte Androhung einer US-Invasion dazu dienen, die Streitkräfte auf die Seite des selbsternannten Interims­präsidenten zu ziehen. Da das Nationalparlament skrupellos vom Regime entmachtet wurde, mag man Guaidó genauso viel oder wenig Legitimität zugestehen wie dem undemokratisch wiedergewählten Maduro. Seine reale Macht basiert aber im Moment auf der schnellen Anerkennung als Präsident, die er von den USA, konservativen lateinamerikanischen und fast allen EU-­Regierungen erhalten hat.

Noch verweigert Guaidó den Dialog mit seinem Kontrahenten. Bisher hätten Verhandlungen mit dem Regime immer nur zu mehr Autoritarismus und Repression geführt, sagte er und kal­kuliert damit ein, dass der Konflikt gewalttätig ausgetragen werden könnte – im schlechtesten Fall mit einer Intervention der USA. Guaidós harte Haltung könnte brechen, wenn die bedingungslose internationale Unterstützung nachlässt. Von Trump sowie seinen rechten Amtskollegen in Brasilien und ­Kolumbien ist das nicht zu erwarten. Mexiko, Uruguay und einige Karibikstaaten haben dagegen mit dem »Mechanismus von Montevideo« einen gangbaren Weg vorgeschlagen: Dialog ohne Vorbedingungen.

Solange jedoch die maßgeblichen EU-Staaten an der Anerkennung Guaidós festhalten, stärken sie dessen kompromissloses Vorgehen und damit die Gefahr, dass der Konflikt weiter eskaliert, und das in einem bekannten und heiklen internationalen Szenario: Auf der einen Seite ein autoritäres ­repressives Regime, das von Russland, China und dem Iran unterstützt wird, auf der anderen eine oppositionelle Bewegung, die auf die Unterstützung der USA und der EU baut.