Wie »Der Spiegel« dem Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde das Jüdischsein absprach

Inszenierter Skandal

Wolfgang Seibert wird vorgeworfen, sich fälschlicherweise als Jude ausgegeben zu haben. Linke werden angefeindet, weil sie den ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg hofiert hätten.

Der Spiegel ließ die Bombe platzen. Am 19. Oktober publizierte das Magazin unter dem Titel »Der gefühlte Jude« die Ergebnisse einer einjährigen Recherche über Wolfgang Seibert, den inzwischen zurückgetretenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg. Seibert, so suggerieren die Spiegel-Jour­nalisten Moritz Gerlach und Martin Doerry in ihrem Artikel, sei ein »Betrüger und Hochstapler«, der mutwillig und in böser Absicht erfunden habe, Jude zu sein und Shoah-Überlebende zu seinen Vorfahren zu zählen.

Die Bedürfnisse der Spiegel-Leserschaft dürfte der Artikel bestens erfüllen. Schließlich ist es einfacher, die simplifizierte Version eines »Falls« zu präsentieren, als die Komplexität der Vorgänge zu erfassen, die sich auch in der Kontroverse um Seiberts jüdische Identität zeigt. So muss man sich nicht fragen, was die gegen Seibert erhobenen Vorwürfe über die Sehnsüchte der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft aussagen.

Dass Seibert vor rund 35 Jahren wegen Betrug und Unterschlagung eine Haftstrafe absaß, reicht Gerlach und Doerry aus für die Vermutung, er könne als Vorsitzender der Gemeinde Geld veruntreut haben. Auf diese Weise liefern die Autoren ihren Leserinnen und Lesern ein Motiv für Seiberts vermeintlich bloß vorgetäuschtes Judentum, nämlich persönliche Bereicherung. Berichte Seiberts über Angriffe auf das Pinneberger Gemeindehaus ziehen die Journalisten in Zweifel. »Wer sich einmal hinter den Schutzschild einer – vermeintlich – jüdischen Identität flüchten kann, darf damit rechnen, unangreifbar zu sein«, heißt es in ihrem Artikel. Seibert war während seiner Zeit als Gemeindevorsitzender immer wieder Ziel antisemitischer Agitation geworden. 2011 drohte ihm ein Islamist gar mit dem Tod.

Die Bedürfnisse der Spiegel-Leserschaft dürfte der Artikel bestens erfüllen. Schließlich ist es einfacher, die simplifizierte Version eines »Falls« zu präsentieren, als die Komplexität der Vorgänge zu erfassen, die sich auch in der Kontroverse um Seiberts jüdische Identität zeigt. So muss man sich nicht fragen, was die gegen Seibert erhobenen Vorwürfe über die Sehnsüchte der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft aussagen.

Tatsächlich veranlasste der Wunsch nach persönlicher Entlastung und Identifikation mit den Opfern der Shoah seit 1945 einige nichtjüdische Deutsche dazu, zum Judentum zu konvertieren, wie die Autorin Barbara Steiner in ihrem Buch »Die Inszenierung des Jüdischen. Konversion von Deutschen zum Judentum nach 1945« herausgearbeitet hat. Dasselbe gilt Steiner zufolge auch heutzutage noch für viele Deutsche, die eine jüdische Identität annehmen, ohne zum Judentum zu konvertieren. Wie Konvertiten agierten auch sogenannte »falsche Juden« in einem historisch belasteten Kontext, in dem jüdische Identität noch immer mit der Erfahrung der Shoah verknüpft sei. »Vor allem aus nichtjüdischer Sicht wird meist nur derjenige als ›echter‹ Jude angesehen, der auf eine Familiengeschichte verweisen kann, die von der Erfahrung der Vernichtung gezeichnet ist«, heißt es in Steiners Buch.

In den Kommentaren zu der Kontroverse um Seibert, die sich in den sozialen Medien finden, spielten solche Fragen nach der Konstruiertheit von Identitäten und Biographien bislang kaum eine Rolle. Hier wurde Seiberts Fall vor allem als singulärer Skandal betrachtet und der ehemalige Gemeindevorsitzende dementsprechend als »behandlungsbedürftig« oder als »pathologischer Fall« bezeichnet. Auch die Schuldzuweisung an Linke, die Seibert angeblich hofiert hätten, erfüllt manche Kommentatoren mit Genugtuung. »Jahrelang war er Liebling der Taz, weil er deren linker Gemengelage entsprach! Nun ist er entlarvt und die Taz ist blamiert«, schrieb ein Facebook-Nutzer. Der Journalist Daniel Killy bezeichnete Seibert in einem Beitrag für das Internetportal Salonkolumnisten als »Darling einer israelkritischen Linken, der zwischendurch auch mal den Israel-Freunden der Antideutschen den Kopf verdreht zu haben schien«.

Solche Kommentare ignorieren nicht nur Seiberts politische Positionen, sondern suggerieren auch, er sei politische Allianzen nicht aus Überzeugung eingegangen und habe mit seinen jeweiligen Bündnispartnern nicht kontrovers diskutiert. Seit 2013 wurden ­jedoch vermehrt Äußerungen Seiberts öffentlich, die diesem Bild widersprechen. In dem von mir herausgegebenen Buch »Verheerende Bilanz: Der Anti­semitismus der Linken – Klaus Rósza und Wolfgang Seibert zwischen Abkehr, kritischer Distanz und Aktivismus« wird dies deutlich. Darin ging es erklärtermaßen nicht darum, eine Anleitung zum richtigen Handeln zu liefern, sondern die politische Wandlungsfähigkeit der Protagonisten – dazu gehörte etwa das Überdenken antizionistischer Gewissheiten – aufzuzeigen. Gegenstand des Buches waren besonders die politischen Brüche in den Biographien  Seiberts und Rószas.

Dass einzelne Wegbegleiter Seiberts betonen, unabhängig von der Frage nach Seiberts jüdischer Identität und jenseits identitärer Zuschreibungen politische Überzeugungen mit ihm zu teilen, schürt weitere Anfeindungen. »Dass der liebste ›linke‹ und ›jüdische‹ Kronzeuge ein Betrüger sein soll, das können die Waffenbrüder schlicht nicht durchgehen lassen«, unterstellte Da­niel Killy Seiberts Wegbegleitern in seinem Beitrag.

Für den Spiegel scheint die »Büchergilde Gutenberg«, bei der Seibert vor 30 Jahren Schallplatten und Bücher im Wert von 1 568 Mark »erschwindelt« haben soll, gleichermaßen von Seiberts Fall betroffen zu sein wie diejenigen, die sich verständlicherweise geschädigt und verletzt fühlen. In dieser Situation Verantwortung zu übernehmen, hieße zunächst, auf die Diabolisierung und Kriminalisierung einer Einzelperson zu verzichten und den komplexen Sachverhalt aufzuklären. Zweifelsohne ­geschädigt ist das Image der Jüdischen Gemeinde Pinneberg. Jüdische Instanzen werden sich mit der Frage befassen, die sich der Spiegel fälschlicherweise zu eigen gemacht hat: ob Seibert formal als Jude anerkannt bleibt.