Hamze Bytyci, Linkspartei, im Gespräch über Erfolge und Rückschläge der Roma-Emanzipation

»Wir müssen handeln, ehe es zu spät ist«

Rechte Nationalisten befinden sich in ganz Europa im Aufwind. Das betrifft die Sinti und Roma, am gravierendste sei die Lage in der Ukraine, sagt Hamze Bytyci. Er kam 1989 mit seiner Familie nach Deutschland und kämpfte 1990 im Kirchenasyl in Tübingen gegen die eigene ­Abschiebung. 2005 gründete er die Organisation Amaro Drom (Unser Weg) und 2012 den Verein Roma Trial e. V. Seit 2016 ist BytyciMitglied des Landesvor­standes der Berliner Linkspartei.
Interview Von

Herr Bytyci, wie sehen Sie die derzeitige Lage der Sinti und Roma in Europa?
Sie entwickelt sich aus meiner Sicht in zwei entgegengesetzte Richtungen. ­Einerseits entstehen viele selbstbestimmte Initiativen von Roma und Sinti, quer durch verschiedene Bereiche und auf verschiedenen Ebenen: In vielen Ländern gibt es immer mehr studierende Roma, langsam finden wir Vertretung in den Medien und in der Politik, auf der europäischen Ebene gibt es das sehr aktive Europäische Zentrum für Rechte der Roma, in Berlin laufen seit Anfang des Jahres Fachgespräche zwischen den Roma-Communities und den Parteien der rot-rot-grünen Landesregierung über die strukturellen Möglichkeiten der politischen Partizipation, selbstorganisierte Kunst- und Kulturveranstaltungen wie die Erste Roma-Biennale, die ich im April am Gorki-Theater in Berlin mitkuratieren durfte, stoßen auf reges Interesse des Publikums.

Andererseits befinden sich in ganz Europa rechte Nationalisten im ­Aufwind. Wie betrifft das die Sinti und Roma?
Wir spüren als Erste den wachsenden Rechtsextremismus in Europa – das ist die andere Entwicklung. In der Ukra­ine ist die Situation wohl am gravierendsten, dort werden seit April Roma-Siedlungen angegriffen, Menschen werden vertrieben und deren Hab und Gut wird oft unter den Augen der örtlichen Polizei zerstört und angezündet. Die Neonazis prahlen mit den Aufnahmen ihrer Taten ungestraft im Internet, die Polizei ermittelt wegen »groben ­Unfugs«. Am 23. Juni erreichte die Situation ihren tragischen Höhepunkt: Bei einem Überfall auf ein Roma-Lager in der Westukraine sind der 24jährige ­David Papp getötet und vier weitere Personen verletzt worden. An der Kundgebung vor der Ukrainischen Botschaft in Berlin, die vom Berliner Landesverband der »Linken« in enger Zusammenarbeit mit unserem Verein Roma Trial e. V. am 27. Juni organisiert wurde, nahmen etwa 80 Menschen teil. Auch in anderen europäischen ­Ländern verschärft sich die Lage. Aber auch in Bukarest fand wegen der Pogrome in der Ukraine am Samstag eine Demonstration statt. Daran sollen zwischen 800 und 900 Menschen teilgenommen haben. In weiteren Städten Europas ist zu Demonstrationen auf­gerufen worden.

Wo sehen Sie derzeit den größten Handlungsbedarf?
Die Entwicklung mit der neuen Regierung in Italien und ihrem extrem ­rechten Innenminister Matteo Salvini ist besonders besorgniserregend. Salvini hat gesagt, dass Roma in Italien gezählt werden sollten, damit man erfährt, wie viele von den ausländischen deportiert werden können. Roma mit italienischer Staatsangehörigkeit müsse Italien »leider behalten«, so Salvini.

Unser Verein reichte diese Woche eine Klage gegen den Herausgeber des Malta Independent wegen Volksverhetzung ein, der in Reaktion auf Salvini über Roma indirekt schrieb, dass sie die Ermordung in Vernichtungslagern ­verdient hätten: »Die Juden, die in Vernichtungslager geschickt wurden, ­waren unschuldig und hatten die Strafe, die sie unglückseligerweise erdulden mussten, nicht verdient. Doch es gibt Millionen in Italien und viele in Malta, die die Großzügigkeit, die ihnen entgegengebracht wurde, mit Kriminalität vergolten haben, und sie müssen die Folgen ihres Handelns spüren.« Das sind haarsträubende Aussagen. Dagegen müssen wir konsequent vorgehen. und die Instrumente des Rechtsstaats bewusst einsetzen. Wir müssen handeln, ehe es zu spät ist.

Diese Woche wird in vielen Ländern Europas der Ermordung von 3 000 Sinti und Roma in Auschwitz ­gedacht. Welche Rolle spielt dieses Erinnern für Sie in der heutigen Zeit – gerade angesichts der ­Entwicklungen, von denen Sie sprechen?
Ich hatte vor zwei Wochen die große Ehre, an einem Videointerview mit ­einer der letzten Holocaust-Überlebenden beteiligt zu sein – mit der 94jährigen Sintizza Zilli Reichmann aus Mannheim, die am 2. August 1944 ihre vierjährige Tochter in Auschwitz-Birkenau verloren hat. Das Ende unseres Gesprächs war nicht besonders erfreulich. »Das, was ich hinter mir habe, sehe ich wieder vor mir«, hat sie zum Schluss gesagt. Und dass es besonders Leute mit unserer Einstellung schwer haben werden. Ihre düstere Prophezeiung ­finde ich auch deswegen so beängstigend, weil es in ein paar Jahren niemanden mehr geben wird, der wie sie von der Nazizeit berichten könnte. »Was sollen wir denn machen?« habe ich sie gefragt. »Noch mehr die ­Klappe aufmachen«, war ihre prompte Antwort.

Es gibt also offensichtlich doch noch Hoffnung, dass wir – wenn wir laut ­genug sein werden – gemeinsam die Entwicklung nach rechts aufhalten können. Dass es Sinn hat, die Klappe aufzumachen und Dinge nicht einfach so hinzunehmen. Denn so langsam scheinen dazu Roma in Europa auch endlich das Zeug zu haben.