Swaantje Illig, Ärztin, im Gespräch über die Lage der aus dem nordsyrischen Afrin Vertriebenen

»Die Menschen wollen sich nicht vertreiben lassen«

Im Rahmen der Kampagne »Women rise up for Afrin« der syrisch-kurdischen Frauenorganisation Kongreya Star besuchte eine Delegation aus Berlin im Mai Nordsyrien. Die Ärztin Swaantje Illig, Silvia Hauffe (Mitarbeiterin der Bundestags­abgeordneten Sylvia ­Gabelmann, Die Linke) und die Pastorin Daniela Nischik (Evangelischer Blindendienst, Berlin) wollten medizinische Unterstützung leisten und die humanitäre Situation dokumentieren. Die »Jungle World« sprach mit Swaantje Illig über die Lage der durch die türkische Invasion aus der nordsyrischen Region ­Afrin Vertriebenen.
Interview Von

Warum sind Sie mit einer Delegation nach Nordsyrien gereist?
Der Aufruf der Kampagne »Women rise up for Afrin« hat uns zusammengebracht. Wir sind mit dem Frauenrat Berlin in Kontakt gekommen und gemeinsam der Einladung nach Afrin gefolgt, um die Situation der geflüchteten Menschen im Kanton Shehba zu dokumentieren. Ich selbst war 2015 schon in der Region und habe dort im Krankenhaus gearbeitet, seitdem halte ich kontinuierlich Kontakt mit dem Gesundheitskomitee und den Strukturen der Selbstverwaltung vor Ort, um medizinische Unterstützung zu leisten.

Welche Orte hat die Delegation besucht?
Wir sind über den Nordirak angereist und mussten an der Grenze zwei Tage warten, bis wir nach Syrien passieren durften. Wir haben uns dann mit den Frauen von Kongreya Star, dem Dachverband der kurdischen Frauenorganisationen, unseren Gastgeberinnen, in Derik getroffen. Über vom syrischen Regime kontrolliertes Gebiet sind wir nach Shehba gefahren und dann über Kobanê wieder zurück in den Irak.

Zuvor waren wir in Cizire, dem dritten Kanton der Selbstverwaltung in Nordsyrien. Wen habt ihr getroffen?
Die Frauen von Kongreya Star waren unsere ständigen Begleiterinnen. Seit 2005 organisieren sich Frauen in diesem Dachverband und wirken beim Aufbau einer demokratischen Selbstverwaltung mit. In den wichtigsten Städten Nordsyriens gibt es Repräsentantinnen der Organisation. Außerdem haben wir uns mit Heyva sor a Kurd, dem Kurdischen Roten Halbmond, getroffen, der nur in Nordsyrien agiert und sich um die medizinische Erstversorgung kümmert. Wir haben auch die weibliche Vorsitzende der PYD, Vertreterinnen der Gesundheitskomitees und der Gesundheitsverwaltungen getroffen, um mehr über die medizi­nische Situation zu erfahren. In Shehba haben wir mit den Verwaltungen der drei Flüchtlingscamps Berxwedan, Serdem und Efrin gesprochen.

Die Camps werden seit März aufgebaut, um den Tausenden Vertriebenen aus Afrin eine Zuflucht zu bieten. Der Großteil sind Kurden, es leben aber auch syrische Christen, Yeziden, Armenier und Angehörige anderer Minderheiten in den Camps.

Was ist Ihr Eindruck von der Lage in Shehba?
Wir hatten große Sorge, was uns vor Ort erwarten wird. Dann waren wir aber sehr erstaunt, was dort schon alles aufgebaut wurde. Es wird aus wenigem viel improvisiert. Die Umstände sind sehr schlecht. Die Menschen wirkten trotzdem kraftvoll und halten daran fest, dass sie sich nicht vertreiben lassen und zurück nach Afrin wollen. Bei genauerer Betrachtung ist die Lage jedoch dramatisch.

Die größten Pro­bleme sind Trinkwasserzufuhr, medizinische Versorgung und Stromerzeugung. Zurzeit verschärft sich die Lage, weil das syrische Regime ein Dieselembargo über die Region verhängt hat. Diesel ist aber nötig, um Brunnen zu betreiben, die Krankenstation oder auch Ventilatoren in den Zelten. Hilfslieferungen kommen nur schwer nach Shehba. Seit einem Monat steckt ein Krankenwagen an der Grenze fest, der dringend benötigt wird. Da die Region vom »Islamischen Staat« besetzt war, gibt es ein Problem mit Landminen. Immer wieder erleiden Menschen schwere Verletzung, die vor Ort schlecht behandelt werden können. Wir trafen zwei Jungen, die beide vor kurzem durch eine Mine Körperteile verloren haben. Aus medizinischer Perspektive kann ich außerdem sagen, dass die mangelhafte Ernährung und die fehlende Hygiene gerade für Kleinkinder und Säuglinge lebensgefährlich sind. Shehba ist auf keinen Fall ein Ort, an dem man sicher leben kann.