Artan Sadiku, albanischer Sozialwissenschaftler, im Gespräch über die Rolle Albaniens in der Flüchtlingspolitik der EU

»Es gibt keine neue Balkan-Route«

Albanien lehnt eine Errichtung von EU-Asylzentren kategorisch ab. Regierungschef Rama sagte im Interview mit der »Bild«, dies gelte auch dann, wenn seinem Land als Gegenleistung ein EU-Beitritt in Aussicht gestellt werde. Der albanische Soziologe Artan Sadiku sprach mit der »Jungle World« über die Rolle des westlichen Balkans in der Flüchtlingspolitik der EU und Albaniens Chance auf einen baldigen EU-Beitritt.
Interview Von

Der albanische Ministerpräsident Edi Rama sagte in der vergangenen Woche der Bild-Zeitung, er werde nicht zulassen, dass Flüchtlinge in Albanien »wie Giftmüll, den niemand will«, abgeladen würden. Wie wird das Thema derzeit in Albanien diskutiert?
Flüchtlinge waren in Albanien und den albanischen Medien bis vor kurzem kein großes Thema. Es gab keine relevanten Gruppen, die sich für oder ­gegen Flüchtlinge ausgesprochen haben. Nur in der Auslandsberichtserstattung wurde allgemein über die Situation berichtet, allerdings ohne große Emotionen bei der albanischen Bevölkerung auszulösen. Erst als der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz die Idee forcierte, Asylzentren in Albanien einzurichten, wurde es zum Thema.

Wie verlief die Debatte?
Der stellvertretende Innenminister Julian Hodaj erwähnte in einem Interview, dass Albanien bereits zu Zeiten des Kosovo-Kriegs bewiesen habe, dass es bis zu 600 000 Flüchtlinge aufnehmen könne. Oppositionspolitiker warfen der Regierung daraufhin vor, IS-Terroristen ins Land lassen zu wollen.

Ist es nicht klar, dass Albanien mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern, keine 600 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen wird?
Natürlich. Zu Zeiten des Kosovo-Kriegs war das auch eine völlig andere Situation. Die Kosovaren wurden als Brüder und Schwestern der Albaner in Not gesehen. Viele hatten Familien in Albanien. Menschen haben die Flüchtlinge aus dem Kosovo bei sich zu Hause aufgenommen und sich um sie gekümmert. Der Staat hat dabei keine große Rolle gespielt. Wenn nun Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten kämen, dann würde sich vor allem die Regierung um sie kümmern müssen. Der ­albanische Staat hat aber überhaupt nicht die Kapazitäten und Kompetenzen, eine solche Herausfor­derung zu handhaben. Wenn Albanien Flüchtlinge aufnimmt, dann müsste das von internationalen Organisationen und der EU organisiert und finanziert werden.

»Die EU-Politik gegenüber dem gesamten westlichen Balkan war von Anfang an unfair. «

Gibt es in Albanien eine gegen Flüchtlinge gerichtete Debatte wie in anderen europäischen Ländern?
Es gibt derzeit keine relevanten Gruppen, die sich rassistisch oder xenophob gegenüber Flüchtlingen äußern. Die Opposition wirft Edi Rama vor, er biedere sich der EU zu sehr an und ­nutze die Flüchtlinge aus, um sich als ­EU-Partner zu zeigen.

Ist der Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa ein Thema in Alba­nien?
Matteo Salvini, der italienische Innenminister, ist ein Thema, weil Italien und Albanien historisch eng miteinander verbunden sind und es eine rie­sige italienische Diaspora in Albanien gibt. Die Albaner sind also vom Aufstieg der Rechten in Italien betroffen. Das ist dann ein Thema und eine ­Sorge in ­Albanien. Aber über Viktor Orbán und andere Populisten wird kaum gesprochen.

Wird über das Mittelmeer gesprochen?
Es gibt einige kleine progressive Gruppen, die von Rama forderten, Albanien solle Schiffe aufnehmen, die keinen anderen europäischen Hafen anlaufen dürfen. Aber das sind kleine Gruppen und die Regierung hat darauf nicht reagiert.

Die Wahlkampagne von Sebastian Kurz in Österreich fußte ja darauf, dass er sich als derjenige ins­zenierte, der die sogenannte Balkan-Route schloss. Nun sagt er, es gebe eine neue Bal­kan-Route über Albanien, die geschlossen werden müsse. Stimmt das?
Es gibt keine neue Balkan-Route. Die Situation ist überhaupt nicht vergleichbar mit 2015 und 2016. Es gibt kleine Gruppen von Menschen, die es mit Hilfe von Schmugglern über die Grenzen schaffen, aber die Zahlen sind gering. Sebastian Kurz versucht, die Flüchtlingsfrage für sich zu nutzen, wobei er sich als Anführer der Europäischen Union inszeniert und als Politiker, der einen besonders guten Draht zu den Ländern des westlichen Balkans hat.

Im Jahr 2016 hat Mazedonien seine Grenzen und damit die Balkan-­Route geschlossen. Daraufhin half Sebastian Kurz dem damaligen ­mazedonischen Ministerpräsidenten Nikola Gruevski in seinem Wahlkampf. Profitieren Autokraten auf dem westlichen Balkan von der Flüchtlingskrise?
Die Autokraten profitieren von allem, wovon sie nur profitieren können. Insbesondere wenn sie die Gesellschaften und Institutionen in ihren Ländern kontrollieren, so wie es Gruevski tat, fällt es ihnen leicht, der EU Versprechungen zu machen. Sie argumentieren dann, dass sie Stabilität und die Schließung der Grenzen garantieren könnten. Die Gesellschaften auf dem Balkan zahlen dafür einen hohen Preis. Denn wenn die Regierungen machen, was die EU von ihnen verlangt, dann werden sie auch von ihr toleriert und können politisch sehr weit gehen. Sie können dann beispielsweise die Meinungsfreiheit in ihren Ländern einschränken, demo­kratische Grundrechte abbauen oder von Korruption profitieren.