05.04.2018
Krisztián Ungváry, Historiker, im Gespräch über die Geschichtspolitik der ungarischen Regierung und die anstehenden Wahlen

»Die Geschichtspolitik dient der Mobilisierung der Wählerschaft«

Krisztián Ungváry ist Historiker und lebt in Budapest. Er promovierte 1999 an der Eötvös Loránd Universität Budapest über die Belagerung Budapests durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg.

Die ungarische Gedenkpolitik erscheint revisionistisch bis rechtsextrem, im Ausland erfährt sie wenig Zuspruch. Wie lässt sich diese Politik erklären?
Die Erklärung ist sehr einfach. Es gibt Bedarf an einer selbstviktimisierenden Sichtweise, das heißt, »wir« sind die Opfer, die anderen sind die Täter. Österreich zum Beispiel sah sich Jahrzehnte lang als das erste Opfer Adolf Hitlers und es dauerte lange, bis man von dieser Lebenslüge Abstand nehmen konnte.

Geschichtspolitik hat einen politischen Hintergrund, derzeit dient sie in Ungarn vor allem der Mobilisierung der Wählerschaft (am 8. April finden in Ungarn Parlamentswahlen statt, Anm. d. Red.). Damit lässt sich diese Geschichtsklitterung erklären, die nicht nur im Ausland, sondern auch in Ungarn von Wissenschaftlern abgelehnt wird. Revisionistisch in Bezug auf territoriale Ansprüche ist sie nicht, denn diese erheben nur Splitterparteien, das ist keine staatliche Politik. Revisionistisch mag erscheinen, dass bestimmte Sachverhalte des Holocausts oder der kommunistischen Machtausübung sehr seltsam interpretiert werden, aber ich würde das eher mit dem Begriff »Opferkultur« erklären.

Die Geschichtsfälschung beginnt in der Regel mit der Darstellung der ungarischen Räterepublik, deren Rote Armee 1919 versucht hat, die mehrheitlich von Ungarn bewohnten Gebiete zu schützen. Der Roten ­Armee wird unterstellt, für den Friedensvertrag von Trianon vom 4. Juni 1920, mit dessen Unterzeichnung Ungarn zwei Drittel seines Gebiets verlor, verantwortlich zu sein. Sie war aber bereits im August 1919 geschlagen worden, woraufhin die ­rumänische Armee in Budapest einmarschierte. Erst danach konnte der von Ministerpräsident Viktor Orbán bewunderte Miklós Horthy mit der »nationalen« Armee nach Budapest gelangen. Es war der ­Außenminister des Horthy-Regimes, der den Vertrag in Trianon unterschrieb. Werden die Räterepublik und der Vertrag von Trianon im 2002 eingeweihten Budapester Museum »Haus des Terrors« thema­tisiert?
Im »Haus des Terrors« beginnt die Geschichte mit der Machtübernahme der Pfeilkreuzler am 15. Oktober 1944, allerdings wird das Pfeilkreuzlerregime sehr knapp dargestellt. Über Trianon wird eigentlich gar nichts gesagt.

2010 wurde der 4. Juni, der Jahrestag des Trianonvertrags, zum nationalen Gedenktag erklärt, dem »Tag der nationalen Zusammengehörigkeit«. Wer hat diese Idee gehabt?
Das war eine politische Entscheidung des Regimes Viktor Orbáns. Aber bevor man irgendetwas verurteilt, muss man versuchen, es zu verstehen. Österreich hat nach dem Ersten Weltkrieg auch viele Gebiete verloren…


Südtirol zum Beispiel.
Und Galizien, Tschechien etc. Aber heute gibt es außerhalb von Österreich keine ethnischen Gruppen, die sich als Österreicher bezeichnen. Die Südtirol-Frage ist eigentlich glänzend gelöst im Vergleich zu der der ungarischen Minderheit in Rumänien, in Serbien und in der Slowakei, von der Ukraine ganz zu schweigen. In Österreich sind also die Folgen von Trianon und St. Germain, dem Friedensvertrag mit Österreich, gar kein Thema. In Ungarn käme – selbst wenn es keinen Viktor Orbán hätte, selbst wenn alle Ungarn linksliberal wären – in den Nachrichten ständig etwas darüber, wie die Ungarn in den Nachbarstaaten schikaniert werden.

Denn diese Magyaren haben nicht ­solche Rechte wie etwa die deutschsprachigen Südtiroler, die Autonomie und den Schutz ihrer Sprache genießen.

Deshalb kann Trianon gut instrumentalisiert werden. Entscheidend war, dass die Linke nichts mit dieser Geschichte anfangen konnte. Das war eine falsche Entscheidung, denn damit hat man das Thema eindeutig den Rechten überlassen. So konnten diese das Verlustgefühl ungarischer Wähler ausnutzen, denn keine andere Partei hat zu diesem Thema ein politisches Angebot gemacht.

2014 stellte die ungarische Regierung auf dem Budapester Freiheitsplatz das umstrittene Denkmal zur deutschen Besatzung von 1944 auf. ­Meines Wissens gab es dazu das erste Mal einen Widerspruch der deutschen Regierung. Die evangelische Kirche kritiserte es ebenso wie natürlich Mazsihisz, der größte jüdische Verband in Ungarn. Bis heute wurde das Denkmal nicht eingeweiht. Was hat die Regierung damals bewogen und hat es der Regierungspartei Fi­desz politisch Gewinn gebracht?
Absolut. Erstens ist das politische Gewicht von Mazsihisz verschwindend gering. Zweitens hatte es keine politischen Konsequenzen, dass die deutsche Botschaft – in einem sehr gemäßigten Ton – ihre Unzufriedenheit andeutete. Viel wichtiger sind die ungarischen Wähler, denen konnte wieder folgendes Spiel vorgeführt werden: »Wer ist gegen das Denkmal? Die Juden! Denen ist ja nichts genug. Was wollten wir? Nur um unsere Opfer trauern, die Opfer der deutschen Besatzung. Es waren aber nicht nur Juden. Warum geht es immer nur um die jüdischen Opfer?«

Das war die Kommunikationsstrategie der Regierung und sie ist vollständig aufgegangen. Denn wer demonstrierte gegen diesen Denkmal? Nur Menschen mit deutlichem linksliberalen Hintergrund und auch nur einige Hundert. Es gab keine Massendemonstrationen ­gegen dieses kitschige Denkmal. Die ganze Geschichte konnte wieder so ­verkauft werden, dass die Linken von Reue nie genug hätten, sie nur von ­ihren eigenen Opfern hören wollten. Diese Strategie ist bei der Wahl 2014 vollständig aufgegangen. Die Popularität von Fidesz ist nicht gesunken, ­sondern gestiegen.

In welche Lage kommen seriöse ungarische Historiker angesichts ­dieser staatlichen Geschichtsklit­terung?
Alle Historiker sind ja unmittelbar oder mittelbar in Einrichtungen beschäftigt, die vom Staat finanziert werden. Es gibt in Ungarn keine Autonomie der Universitäten mehr, seit nicht mehr der Rektor sondern der Kanzler entscheidet. Wenn ein ungarischer Historiker sich gegen diese Politik ausspricht, dann nimmt er ­große Risiken für seinen Berufsweg auf sich. Deshalb haben relativ viele meiner Kollegen lieber geschwiegen, aber es gab auch aus Historikerkreisen Proteste. Es gibt keinen ernsthaften Historiker, der dieses Denkmal so richtig verteidigen würde. Auch wenn damit 20 oder 50 Historiker unzufrieden sind, hat es Fidesz politisch zum Ziel geführt. Die Wähler zählen und die meisten von ihnen glauben der Regierung. Die Tatsache, dass die Ungarn schneller Juden deportiert haben, als die deutsche Seite sie im Jahr 1944 vernichten konnte, ist schwer zu erklären.

Bei den anstehenden Wahlen scheint es nicht so, als könne eine linke ­Opposition dem Orbán-­Regime ­gefährlich werden. Die rechtsextreme Oppositionspartei Jobbik ­versucht, in die Mitte zu ­gehen, während Fidesz ganz nach rechts rückt. Könnte Jobbik dieses ­Regime ­gefährden?
So sieht es aus. Sollte Fidesz abgelöst werden, dann nicht von links. Ich muss daran erinnern, dass derzeit im un­garischen Parlament keine einzige Partei sitzt, die sich als liberal bezeichnet. Liberale als solche fehlen vollständig im politischen System.

So war es nicht einmal unter Horthy.
Richtig. Diese Regierung wird sicher nicht von links abgelöst, sondern von rechts. Ich hege die Hoffnung, dass nicht Jobbik diese Partei sein wird. Aber derzeit haben wir nur Jobbik als ­größte rechte Konkurrenz. Möglicherweise geht es eher darum, eine Zweidrittelmehrheit von Fidesz zu verhindern und nicht darum, sie vollständig zu schlagen. In dieser Situation hat Jobbik eine sehr wichtige Rolle. Denn wenn Jobbik bereit ist, mit den anderen Oppositionsparteien zu kooperieren, dann wird das ohne weiteres erreichbar sein. Schon deshalb, weil Jobbik auf dem Land sehr stark und der größte Herausforderer von Fidesz ist. In ­Budapest hingegen gibt es eine relativ starke linksliberale Opposition.