Die Identitären verbreiten mit einer pseudo-feministischen Kampagne rassistische Ressentiments

»Me Too« für deutsche Rassisten

Die rechtextreme Identitäre Bewegung will mit einer eigenen Kampagne in den sozialen Medien den Erfolg von »Aufschrei« und »Me Too« nutzen und das Thema sexualisierte Gewalt vereinnahmen. Wie schon bei früheren Kampagnen geht es den Identitären dabei jedoch nur um die Verbreitung rassistischer Ressentiments.

Es wirkt zunächst wie eine ganz normale Kampagne gegen Belästigung: Unter dem Motto »120 Dezibel« oder kurz #120db – eine Anspielung auf die Lautstärke sogenannter Taschenalarmsysteme, mit denen übergriffige Männer abgewehrt werden sollen – will eine Gruppe Frauen einen »echten Aufschrei« initiieren. Unter dem Hashtag sollen Betroffene in sozialen Netzwerken von ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichten; das scheint ähnlich wie 2013 bei der »Aufschrei«-Debatte in Deutschland oder der derzeitigen weltweiten »Me Too«-Debatte. Seit Wochen wird in den Medien und im Internet über das Thema diskutiert; unzählige Frauen, darunter viele Prominente, haben sich bereits geäußert und ihre Erlebnisse geschildert.

Dazu will vorgeblich nun auch #120db animieren. In einem Video werden Frauen aufgefordert, »aktiv« zu werden. Doch schnell wird klar, dass es hier nicht um Sensibilisierung für das Thema oder um den Kampf gegen alltäglichen Sexismus geht. Die Kampagne thematisiert lediglich »importierte ­Gewalt«, nur solche Taten also, die von – tatsächlichen oder vermeintlichen – »Fremden« begangen werden. Taten weißer deutscher Männer werden mit keiner Silbe erwähnt. Kein Wunder, denn hinter der Kampagne steckt die rechtextreme Identitäre Bewegung. Im tausendfach geklickten Video sprechen unter anderem mehrere bekannte Mitglieder der Organisation, die sich auch an einer Aktion der Identitären am Bundesjustizministerium im Mai 2017 beteiligt hatten. Sie beklagen vor der Kamera, wie sie aufgrund der Zuwanderungspolitik angeblich bald einer Mehrheit von »jungen Männern aus archaischen, frauenfeindlichen Gesellschaften« gegenüberständen. Die »Töchter Europas« seien nicht mehr sicher vor Vergewaltigung und Mord, weil »ihr euch weigert, unsere Grenzen zu sichern«. Abendliches Joggen sei »die gefährlichste Sportart« geworden. Abschließend wird eindringlich an die Zuschauerinnen appelliert, »zurückzuschlagen« und der »Widerstandsinitiative von Frauen für Frauen« beizutreten.

 

Mit »120 Dezibel« knüpfen die Identitären an eine frühere Kampagne mit dem Slogan »Kein Opfer ist vergessen« an.

 

Dass die extreme Rechte Übergriffe auf Frauen von Migranten oder Flüchtlingen instrumentalisiert, ist nichts Neues. Spätestens seit der Silvesternacht 2015 und den vieldiskutierten Ereignissen in der Kölner Innenstadt hat man sich den Schutz der – vor allem weißen, deutschstämmigen – Frau auf die Fahne geschrieben. Im Bundestagswahlkampf warb beispielsweise die AfD damit, dass die »Freiheit der Frau« nicht verhandelbar sei, während die NPD »Finger weg, Nafri« plakatierte.

Doch sexualisierte Gewalt und patriarchale Strukturen werden von rechten Populisten, der Neuen Rechten oder Rechtsextremen nur dann thematisiert, wenn sie jenen zugeschrieben werden können, die als »nichtdeutsch« angesehen werden. Man präsentiert sich als Verteidiger vermeintlich liberaler europäischer beziehungsweise westlicher Werte und Freiheiten. Dass es oft ebenjene Rechten sind, die beispielsweise bei Themen wie Abtreibung über Frauen und ihre Körper bestimmen wollen, ist bekannt. Das Besondere an #120db ist der Versuch, sich durch die geschickte Inszenierung der weiblichen Mitglieder und das Kopieren einer Bewegung ­gegen sexuelle Belästigung ein Thema einzuverleiben, mit dem gezielt Frauen angesprochen und angeworben werden sollen.

Mit »120 Dezibel« knüpfen die Identitären an eine frühere Kampagne mit dem Slogan »Kein Opfer ist vergessen« an. Mit dieser forderten sie Ende 2017 ein »angemessenes Gedenken für die Opfer der fatalen Multikulti-Ideologie« und errichteten mancherorts provi­sorische »Gedenkstätten«. Bei dem versuch, Opfer von sexueller Gewalt von Migranten zu instrumentalisieren oder um Todesopfer von »Migrantengewalt« zu trauern, also die Aufmerksamkeit auf die Straftaten der »Fremden« zu lenken, spielt das Verhalten vieler Medien den Rechten in die Hände. Kommt es irgendwo in Deutschland zu einem vielbeachteten schweren Gewalt- oder Sexualverbrechen, spielt schnell die Herkunft des Täters eine wichtige Rolle für das öffentliche Interesse und die mediale Berichterstattung. Derartige Fälle und Spekulationen über mögliches Versagen von Behörden und Politikern sowie angebliche Versäumnisse der Medien werden innerhalb der rechten Filterblase dann massenhaft geteilt. Hinzu kommen Kriminalstatistiken, die bei einfacher Betrachtung die vorherrschenden Ängste bestärken.

Doch lässt sich das Klischee des vergewaltigenden Ausländers, der nachts im Busch auf eine blonde Joggerin wartet, mit einem differenzierten Blick auf entsprechende Statistiken widerlegen. Beispielsweise muss man die unterschiedliche Bereitschaft zum Erstatten einer Anzeige berücksichtigen, die Untersuchugnen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zufolge ist, etwa doppelt so hoch ist, wenn Opfer und Täter sich nicht kennen oder verschiedenen ethnischen Gruppen angehören. Zudem sind zum Beispiel viele Flüchtlinge junge Männer und zählen damit zu jener Gruppe, die statistisch gesehen am häufigsten straffällig wird. Tatsächlich kommt es am häufigsten im familiären Umfeld oder Bekanntenkreis zu Vergewaltigungen, die jedoch oft aus Scham, Angst oder wegen einer Abhängigkeit des Opfers vom Täter nicht zur Anzeige gebracht werden.

All das interessiert die Identitären freilich nicht. Es geht ihnen nicht um Frauenrechte, diese dienen nur als Tarnung für rechte Stimmungsmache. Das Interesse an Prävention oder Mitgefühl für die Betroffenen, die sexualisierte Gewalt durch deutschstämmige Männer erfahren haben, hält sich bei Rechten in Grenzen. Ein eindringliches Beispiel für die Doppelmoral, die manche im Umgang mit den Betroffenen an den Tag legen, lieferte bereits vor etwa zwei Jahren Birgit Kelle, die unter anderem für die rechtslibertäre Zeitschrift Eigentümlich frei, die AfD-nahe Wochenzeitung Junge Freiheit und das rechtskatholische Webportal Kath.net schrieb. Im Zuge der Debatte über die Kölner Silvesternacht forderte sie im Focus, der Aufschrei gegen die Täter dürfe jetzt »nicht ausbleiben«. Zwei Jahre zuvor hatte Kelle zur damaligen »Aufschrei«-Debatte ein Buch veröffentlicht. Der Titel: »Dann mach doch die Bluse zu«.