Wie die Rechtslage beim Whistleblowing in Deutschland aussieht

»Keine Rechtssicherheit für Wistleblower«

Cannelle Lavite ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre of European Law and Politics der Universität Bremen. Die Juristin promoviert beim Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano über den ­juristischen Umgang mit Whistleblowing. Mit ihr sprach die »Jungle World« über die derzeitige Rechts­lage in Deutschland.
Interview Von

Ein im Auftrag des DGB erstelltes Rechtsgutachten aus dem Jahr 2015 bezeichnet die Rechtssicherheit für Whistelblower in Deutschland als unzureichend. Stimmt das heute noch?

Leider ja. Es gab zwei Gesetzesentwürfe der Linkspartei und der SPD in den vergangen zwei Jahren. Der erste wurde vom Bundestag abgelehnt. Der zweite wurde in den Anhörungen abgewiesen. Dies ist nicht zuletzt auf die Lobbyarbeit deutscher Großkonzerne wie Siemens zurückzuführen, die eigene interne Meldesysteme haben und kein Gesetz wünschen, das über darübersteht. Initiativen des Bundestages sind anvisiert, aber bislang ist nichts passiert und sie stehen auch nicht ganz oben auf der To-do-Liste.

Was genau ist das Problem?

Es gibt kein Gesetz, das einheitlich Whistelblowing regelt, sondern ein Dickicht von relevanten Gesetzen und Bestimmungen für den öffentlichen Dienst und die Privatwirtschaft, die nicht einheitlich sind und erhebliche Lücken aufweisen. Es fehlt schon allein eine Definition, wer ein Whistle­blower sein kann. Es gibt keine Definition, wer oder was geschützt werden kann. Vor Gericht bleibt dies der Interpretation des Richters überlassen. Der kann dann entscheiden, ob die Enthüllung in gutem Glauben geschehen oder von öffentlichem Interesse ist. Für Whistleblower bedeutet das, dass es keine Rechtssicherheit für sie gibt. Die Möglichkeiten interner wie externer Meldeverfahren sind zudem stark eingeschränkt, weil der Whistleblower im Falle einer Kündigung zunächst beweisen muss, dass die Kündigung aufgrund der Veröffentlichungen erfolgte und nicht aus einem anderen Grund, den der Arbeitgeber geltend macht, um die Kündigung zu rechtfertigen.

Wen betrifft das?

Es kann jeden betreffen, der mit sensiblem Material arbeitet oder gearbeitet hat. Wenn in der öffentlichen Debatte von Whistleblowern die Rede ist, denken die meisten an Leute wie Edward Snowden oder die Lux-Leaks. Aber nicht jeder Whistleblowing-Fall ist gleich ein nationaler Skandal. Es kann sein, dass Arbeitnehmer einfach im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses auf Dinge stoßen, die sie zu diesem Zeitpunkt für unbedenklich halten. Dann fällt ihnen nach Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses auf, dass etwas daran ungesetzlich oder schädlich für das Gemeinwohl war. Es könnte sich um Korruption handeln oder um ein Fehlverhalten. Dokumente, mit denen gearbeitet wurde, könnten Beweise dafür liefern. Aber da sie nicht mehr für die Firma arbeiten, würden sie nach geltender Gesetzeslage keinen Schutz genießen. Darum brauchen wir eine Regelung, die unabhängig vom Arbeitsrecht gilt und Schutz bietet für Personen, die Informationen im öffentlichen Interesse ­offenlegen.

Inwiefern betrifft Whistleblowing das Arbeitsrecht und das Strafrecht?

Whistleblowing hat Konsequenzen im Arbeitsrecht und es sollte dort auch entsprechende Vorschriften geben. Zum Beispiel muss gesetzlich geregelt sein, dass interne Verfahren vorhanden sind, die unabhängig sein müssen. Es muss klar sein für Whistleblower, was sie öffentlich machen dürfen. Das gilt genauso für das Strafrecht. Es muss Regeln geben, die ein Gleichgewicht herstellen zwischen dem öffent­lichen Interesse und beispielsweise der nationalen Sicherheit. Das Problem ist aber, dass dies im deutschen Recht ­alles sehr fragmentiert ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat darauf hingewiesen, dass der Umgang nicht mit einer Vorschrift hier und einem Gesetz dort geregelt werden darf. Es braucht ein Whistleblower-­Gesetz, das genau festlegt, wo es Ausnahmen gibt für das öffentliche Inter­esse und wie weit gleichzeitig die Interessen der Betroffenen gehen, seien sie nun staatlich oder privat. Dies ist notwendig, damit Beschäftigte einen Schutz haben vor Kündigungen oder strafrechtlicher Verfolgung.

Wie ist die internationale Rechts­lage?

Da wären die UN-Konvention gegen Korruption, die Deutschland übrigens erst im September 2014 ratifiziert hat, und die OSZE-Konvention zu nennen. Aber die am wichtigsten ist die Europäische Menschenrechtskonvention, weil die für alle EU-Mitgliedsstaaten bindend ist. Auch Deutschland muss sie befolgen, und wenn die Gerichte das Prinzip des Artikels 10 der Konvention nicht respektieren, der besagt, dass die Freiheit der Meinungsäußerung respektiert werden muss, zusammen mit dem Schutz von Journalisten und Medien sowie dem Recht der Öffentlichkeit, Informationen zu erhalten, dann muss es eine Strafe durch das Gericht geben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist das erste Gericht, das in seiner Rechtssprechung 2014 eine sehr einfache und übersichtliche Empfehlung ausgesprochen hat, die zwar nicht bindend ist, der Staaten aber folgen können. Es gab das richtungsweisende Urteil im Fall Guja gegen Moldawien. Im Urteil wurden sechs Kriterien aufgestellt, nach denen ein Whistleblower-Fall bewertet werden kann. Zum einen muss es die Möglichkeit geben, dass Whistleblower entweder ein internes oder externes Meldesystem haben, ­intern in der Firma oder Institution oder bei einer unabhängigen externen Stelle oder in den Medien. Dies zu garantieren, ist für Staaten obligatorisch. Zweitens sollen Whistleblower vor Gericht nicht nach ihren guten Absichten beurteilt werden, also nach den Motiven. Wenn ein Whistleblower vor Gericht erst beweisen muss, dass er nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, ist es sehr leicht für die Betroffenen, das Gegenteil zu behaupten, dass nämlich der Whistleblower versuche, dem Unternehmen zu schaden. Das Gericht hat das Kriterium aufgestellt, das »guter Glauben« (reasonable belief) heißt. Es bedeutet, ein Richter soll lediglich versuchen festzustellen, ob Whistleblower einen überzeugenden Grund haben, zu glauben, dass das, was sie gemeldet haben, auch wahr ist.

Unterscheidet sich die Rechtslage in Deutschland von der in anderen ­europäischen Ländern?

In Europa gibt es schon sechs Länder, die in den vergangenen zehn Jahren gute Regelungen implementiert haben. Es gibt den »Public Interest Disclosure Act« in Großbritannien und Irland. Das war der Pionier in Europa. Interessant ist es, dass es viele Länder in Osteuropa gibt, wie zum Beispiel Bosnien-Herzegowina, wo solche Gesetze erlassen wurden oder wie in der Ukraine demnächst erlassen werden sollen, mit erforderlichen Statuten und Definitionen von Whistleblowing, die garantieren, dass Menschen ab der ersten Sekunde, in der sie etwas entdeckt haben, unter Schutz stehen. Whiltleblower können sich an einen Richter wenden, sich dort als Whistleblower vorstellen und sagen, was sie entdeckt haben. Es gibt klare Verfahren, die regeln, an wen sie sich wenden können, sowohl intern als auch extern oder gegenüber den Medien. Dabei müssen sie nicht unter Beweis stellen, in gutem Glauben zu handeln. Das ist ein gigantischer Unterschied zur Situation in Deutschland. In Deutschland muss sich der Wistleblower erst durch ein völlig unübersichtliches Dickicht von Gesetzen kämpfen, er muss beweisen, in gutem Glauben gehandelt zu haben, und hat keinerlei Gewissheit irgendeines gesetzlichen Schutzes. Es kommt aber auch vor, dass in einem Land wie Luxemburg, dessen Whistle­blower-Gesetzgebung als eine der ­besten in ganz Europa gilt, für Whistle­blower kein adäquater Schutz garantiert wird.

Sie spielen auf den Fall der sogenannten Lux-Leaks von 2014 an?

Genau. Antoine Deltour und ein weiterer französischer Staatsbürger hatten öffentlich gemacht, dass 343 internationale Konzerne, darunter Apple, Amazon und die Deutsche Bank, so gut wie keine Steuern bezahlt haben, weil es vertrauliche Abkommen zwischen der luxemburgischen Steuerbehörde und der Firma Pricewaterhouse Coopers gab. Deltour, der dort vier Jahre zuvor gearbeitet hatte, fand im Rahmen seiner Arbeit Dokumente, die diese vertraulichen Abkommen belegten. Das Problem war, dass das, was er öffentlich machte, nicht illegal war. Vor zwei Monaten wurde Deltour zu einem Jahr Haft und einer Geldstrafe unter anderem wegen Verrats eines Betriebsgeheimnises verurteilt. (Die Entscheidung des Berufungsgerichts sollte am 15. März fallen und war bis Redaktionsschluss noch nicht bekannt Anm. d. Red.) Seine Veröffentlichungen wurden nicht als Korruptionsfall klassifiziert, so dass er nicht unter den gesetzlichen Schutz fiel, obwohl an einem öffentlichen Interesse kein Zweifel besteht. Aufgrund seiner Veröffentlichung hat beispielsweise am 21. Oktober 2015 die EU-Kommission entschieden, dass die Steuervorteile, die die Niederlande und Luxemburg multinationalen Konzernen gewährten, illegale Beihilfen darstellen. Die Steuerdifferenz muss nachgezahlt werden, die Finanztochter von Fiat in Luxemburg muss 20 bis 30 Millionen Euro nachzahlen. Das luxemburgische Gericht stufte aber das Handeln der betroffenen Firmen nicht als illegal, sondern lediglich als unethisch ein.