Algeriens Präsident ist wiedergewählt worden

Der alte Mann und das Öl

Die Wiederwahl von Präsident Abdelaziz Bouteflika in Algerien zeigt, dass die dort herrschende Oligarchie jede Veränderung scheut.

»Diktatur bedeutet: Halt’s Maul! Demokratie hingegen bedeutet: Ja, ja, red du nur.« Dieser Ausspruch des französischen Komikers Michel Colucci alias Coluche ist längst zur Redewendung geworden. Doch moderne Autokraten lassen ihre Untertanen auch mal reden. So gleicht das algerische Herrschaftssystem der vergangenen 15 bis 20 Jahre in vielerlei Hinsicht einer Diktatur, doch sofern soziale oder politische Dissidenz nicht bedrohlich erscheint, gilt weitgehende Meinungsfreiheit.
Die Wiederwahl von Präsident Abdelaziz Bouteflikas am Donnerstag voriger Woche mit angeblich 81,5 Prozent der Stimmen gibt sicher nicht das tatsächliche Ausmaß von dessen Popularität wieder. Doch es ist gestattet, ihn zu karikieren. Zu Anfang des vergangenen Jahrzehnts begannen etwa algerische Karikaturisten in Zeitungen wie Le Matin und Liberté, den bereits damals amtierenden Staatspräsidenten unter dem Spitznamen »Attika« darzustellen. Dies war der Name Athens in der Antike, und die Bezugnahme sollte andeuten, dass Bouteflika schwul sei. Eine homophobe, in patriarchalen Gesellschaften aber potentiell wirksame Form der Pseudokritik, die im Fall Bou­teflikas den Tatsachen nicht entspricht. Er heiratete zwar erst spät und geheim im Jahr 1990, war in seinen Amtsjahren als junger Außenminister zwischen 1963 und 1979 jedoch als Playboy berüchtigt.

Kaum ein arabischer Staatschef würde sich eine solche Unterstellung in den Medien seines Landes bieten lassen, ohne dass die Verantwortlichen der entsprechenden Presseorgane zumindest für längere Zeit aus der Öffentlichkeit verschwinden würden. In Algerien reagiert die Staatsmacht nur in Ausnahmefällen. In diesem Jahr stellten die Karikaturisten, wie der Starzeichner Ali Dilem, Bouteflika stets im Rollstuhl und kurz vor dem Ableben dar. Gebrechlich ist der Präsident tatsächlich, der 77jährige wurde am Donnerstag voriger Woche im Rollstuhl an die Wahlurne geschoben. In den vergangenen anderthalb Jahren hat das Staatsoberhaupt überhaupt nur zweimal in der Öffentlichkeit den Mund aufgemacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Präsident im April 2013 einen Hirnschlag erlitten. Daraufhin verbrachte er 80 Tage in einem Pariser Militärkrankenhaus.
Das algerische System wird mitunter mit dem sowjetischen verglichen. Die Gerontokratie ist beiden gemeinsam, doch gibt es bedeutende Unterschiede. In der UdSSR gab die regierende Einheitspartei politisch oder ideologisch motivierte Anordnungen, denen sowohl der Militärapparat als auch die ökonomisch Verantwortlichen Folge zu leisten hatten. Die Produktionsverhältnisse waren von einer zentralstaatlichen und, aufgrund von Bürokratisierung und Entmündigung der Produzierenden, ineffizienten Planwirtschaft geprägt.

Algerien hat als ein von Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf abhängiger Rentenstaat einen hohen Staatsanteil, aber eine planlose Wirtschaft. Die Abhängigkeit vom Rohstoffexport bringt zwei Probleme mit sich. Nur wenn der Weltmarktpreis hoch ist, hat das Regime Überschüsse, die verteilt werden können. Und die Quellen sind nicht unerschöpflich, die notwendige Diversifizierung der Wirtschaft aber kommt kaum voran. Die Einnahmen des Rentenstaats werden überwiegend für Importe ausgegeben – bis auf eine Reserve. Die Devisenreserven betragen derzeit rund 200 Mil­liarden Dollar, aber angesichts der Importabhängigkeit des Landes bei fast allen Bedarfsgütern wären sie binnen weniger Jahre restlos aufgebraucht, würden die Öl- und Gaseinnahmen erheblich sinken.
Unter dem staatssozialistischen Präsidenten Houari Boumedienne (1965 bis 1978) waren die Exporterlöse benutzt worden, um eine Strategie der Importsubstitution durch den Aufbau einer inländischen Produktion zu verfolgen. Diese Strategie scheiterte in den späten siebziger Jahren aus mehreren Gründen, darunter den örtlichen Verhältnissen unangemessene Entscheidungen der Wirtschaftsplaner, Technologiediktate europäischer Konzerne bei der Auswahl der eingeführten Anlagen und grassierende Korruption. Derzeit aber gibt es seitens der Machthaber nicht einmal einen Ansatz strategischer Überlegungen zur ökonomischen Zukunft.
Anders als in den realsozialistischen Ländern regiert auch nicht wirklich eine »führende Partei«. Nicht, weil es ein Mehrparteiensystem gibt, in dem allerdings die Nationale Befreiungsfront (FLN) seit 2007 wieder eine hemegionale Stellung einnimmt, die sie zuvor zehn Jahre lang verloren hatte. Fünf der sechs Kandidaten für die algerische Präsidentschaftswahl kamen aus den Reihen des FLN, der von 1962 bis 1989 als Einheitspartei regierte, unter ihnen Bouteflika, sein einziger ernstzunehmender Rivale, der ehemalige Premierminister Ali Benflis, sowie drei weitgehend bedeutungslose Bewerber. Die sechste Bewerberin war die Linksnationalistin Louisa Hanoune, die viel gegen das westliche Kapital, den Internationalen Währungsfonds und die USA wettert und sich mitunter mit Hugo Chávez vergleicht, aber die einheimische Oligarchie kaum kritisiert. Im Wahlkampf drückte sie ihre Bewunderung für Bouteflika aus. Benflis, dem offiziell gut zwölf Prozent der Stimmen zugesprochen wurden, erkennt das Ergebnis allerdings nicht an. Er spricht von Wahlbetrug und will nun eine eigene Partei gründen.
Die Parteistrukturen des FLN haben jedoch kaum Enfluss auf die politischen Entscheidungen, im Unterschied zur KPdSU von einst. Es regiert ein kleiner Zirkel der oligarchischen Führungsschicht, dem der Familienclan Bouteflikas – an herausragender Stelle steht sein Bruder Said – und Angehörige der Militärführung, aber auch Unternehmer angehören. Letztere unternehmen allerdings wenig zur Steigerung der Produktivität. Die Wirtschaftsmagnaten akkumulieren kein Kapital im Land, sondern sind fast ausschließlich im Erdölsektor sowie im Import-Export-Geschäft tätig, versorgen die Oberschicht mit Luxusgütern und legen ihr Geld oft im europäischen Ausland an.

Die Oligarchen aus Wirtschaft und Politik fürchteten nach dem Beginn der arabischen Revolten im Jahr 2011, dass es auch in ihrem Land zu Protesten kommen könne. Propagandistisch stellte die Führungsschicht den »arabischen Frühling« als Komplott einer »ausländischen Hand« dar, die nicht genauer identifiziert wurde. Am Montag dieser Woche sagte der FLN-Parteivorsitzende Ahmed Saadani zu Protesten gegen die manipulierte Wahl: »Wer den arabischen Frühling in unser Land importieren möchte, kennt Algerien schlecht.« Tatsächlich bremst vor allem die durch die Eskalation in Syrien bestärkte Befürchtung, es könne wie in den neunziger Jahren zu einem verheerenden Bürgerkrieg kommen, die Protestbereitschaft vieler Algerierinnen und Algerier.
Doch eine Garantie für dauerhafte Ruhe im Land ist das nicht. Um Reformbereitschaft wenigstens zu simulieren, hatte sich ein Teil der Führungsschicht Anfang des Jahres dafür ausgesprochen, auf eine Wiederwahl Bouteflikas zu verzichten und stattdessen Ali Benflis als Sachwalter einer Kontinuität des Systems zu installieren. Mitte Februar kam es deswegen sogar zu einem offenen Streit zwischen Armeegenerälen und der Führung des DRS (Abteilung für Nachrichtenwesen und Sicherheit), der mächtigen politischen Polizei. Der in Lyon lehrende algerischstämmige Politik­wissenschaftler Lahouari Addi glaubte sogar, in Wirklichkeit sei Benflis »der Kandidat des Systems« und Bouteflikas Kandidatur diene nur der Ablenkung. Doch die panische Furcht vor jeglicher Veränderung hat die Oberhand behalten und Bouteflika eine weitere Amtszeit verschafft.