Nelson Mandela, Mythos und Realität

Der moderne Moses

Bereits vor seinem Tod war Nelson Mandela zum Mythos geworden. Sein Image hat längst nicht mehr viel mit der historischen Realität zu tun.

Mit Nelson Mandela, behauptete am Tag nach dessen Tod das US-amerikanische Satiremagazin The Onion, sei das erste Mal in der Menschheitsgeschichte ein Politiker gestorben, den die Nachwelt vermissen würde. The Onion zitierte dabei einen frei erfundenen »Professor Wallace M. Delaney« von der Columbia University mit den Worten, es sei in der Weltpolitik ein Novum, dass sich Menschen überall darin einig seien, dass »die Welt nach dem Tod eines Politikers schlimmer dran ist als zuvor«.
Die Aussage kontrastierte mit den zugleich in inszenierter Spontaneität verlesenen Nachrufen – in Wahrheit hatte man natürlich schon eine Weile gewusst, dass es bald so weit sein würde mit dem Ableben des berühmten Südafrikaners. Alle wollten sie dann dabei sein bei der großen Globaltrauer, die ihnen selbst nie zuteil werden wird. Barack Obama, sein Amtsvorgänger Bill Clinton, Wladimir Putin, Benjamin Netanyahu und Shimon Peres, der im israelischen Gefängnis sitzende palästinensische Führer der al-Aqsa-Märtyrerbrigaden, Marwan Barghouti, und Irans Prä­sident Hassan Rohani, um nur einige zu nennen – alle bekundeten ihr Beileid für die Hinterbliebenen und die Nation Südafrika sowie ihren Respekt für Größe und »Vision« des Verstorbenen. Selbstverständlich versuchte jeder Nachruf, damit einen gewissen Anspruch auf das moralisch-politische Erbe Mandelas zu erheben.

Fast alle diese Nachrufe zeichneten ein Bild von Mandela als unerreichbarer Lichtgestalt, einen, den die Welt braucht, der nicht sterben darf. Angelegt war dies bereits in der Free-Mandela-Kampagne des African National Congress (ANC) 1980 im Londoner Exil, die rückblickend als Prototyp moderner Public-Relations-Kampagnen transnational agierender NGOs erscheint. Dort wurde Mandela als politischer Führer stilisiert, der Unglaubliches auf sich genommen habe, um seinem Volk demokratische Rechte zu bringen, und dessen Freiheit dem Volk den Sieg bringen werde. Der Mythos wurde noch bekräftigt, weil sich die Vorhersage sogar erfüllte. Nach seiner Freilassung wurde Mandela zum ersten von der Gesamtbevölkerung gewählten Präsidenten Südafrikas. Wie man aus dem Film »Invictus« (2009) mit einem großväterlichen Morgan Freeman als Mandela weiß, nahm Mandela anschließend sogar die Bürde auf sich, sich für Rugby zu begeistern, um die Südafrikaner unterschiedlicher Hautfarbe in der Regenbogennation zu vereinen. Dann zog er sich entgegen der Gewohnheit afrikanischer Präsidenten, die meist gerne etwas länger im Amt bleiben, aus der Politik zurück und widmete sich dem Kampf gegen Aids. Besser hätte er seine zum Markenzeichen gewordene Mischung aus Würde und Bescheidenheit kaum inszenieren können. Mandela, der Mythos, blieb sich selbst treu.
Das Problem am Phänomen Mandela scheint zu sein, dass die Mythenbildung, mit fleißiger Unterstützung aufwendiger Filmproduktionen wie »Invictus« oder »Winnie Mandela« (2013), weder eine besonders kritische noch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Mandela und seinen politischen Ideen, geschweige denn dem realen Leben unter der Herrschaft der Apartheid bietet. Es wird ein überlebensgroßes Heldenbild produziert, dem nachzueifern sich für keinen vernünftigen Menschen lohnt, da es unerreichbar bleibt.
Irgendwie war Mandela tatsächlich so etwas wie ein moderner, säkularer Moses mit etwas weniger Bart. Er hatte zwar keinen direkten Draht zu Gott, dafür aber zur modernen Quelle staatlicher Souveränität, dem Volk. Der Kollaps des Ostblocks ermöglichte dann auch den alten Gegnern Mandelas und Unterstützern der Apartheid im Westen einen Richtungswechsel und beseitigte so die letzten Hindernisse bei der Erhebung Mandelas ins Weltkulturerbe. Nun konnte er Südafrika nicht nur aus der Apartheid, sondern in die alle versöhnende, multiethnische und multilinguale Regenbogennation führen. Zwar gab es noch Probleme wie Aids, Armut und die verbreitete Gewaltkriminalität, aber zunächst hatte Mandela durch kluges politisches Manövrieren Südafrika vor einer Reihe von Bürgerkriegen zwischen Weißen und Schwarzen beziehungsweise dem ANC und der Inkatha Freedom Party bewahrt.
Zum Dank hat man im heutigen Südafrika Universitäten, Straßen, Plätze und sogar eine Meeresbucht nach Mandela benannt. Irgendwie scheint aber der idealistische Elan mit dem Sieg über die Apartheid ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Die Jugend, soweit sie Bildung hat, würde kaum, wie einst Winnie Mandela, auf ein Harvard-Stipendium verzichten, um irgendwo in einem Slum Sozialarbeit zu leisten oder etwas ländliche Entwicklung in Eastern Cape zu fördern.

Global sieht es nicht viel besser aus. Dort war Mandela zumeist ohnehin nur Projektionsfläche für ein diffuses Unwohlsein mit »denen da oben«, die man zwar wählen kann, die aber doch nur den Planeten zerstören und Kriege anfangen, wegen Öl oder anderer Rohstoffe. Vielleicht Kaffee. Viele, die heute in der internationalen NGO- und Entwicklungspolitik-Szene tonangebend sind, kann man als legitime oder illegitime Nachkommen der sozialen Bewegungen der achtziger Jahre betrachten. Deren Aufstieg war begleitet vom Reifen des Mandela-Mythos.
Konstitutiv für diesen Mythos ist die Vorstellung, dass die Welt von großen Konzernen regiert wird, mit denen die Politiker meist unter einer Decke stecken. Shell und Daimler-Benz und wie sie alle heißen haben ja auch damals schon das Apartheid-Regime unterstützt, während sie heute durch Offshore-Drilling den Planeten gefährden. Die einen tun es eher heimlich, die anderen propagieren es ganz offen. Damals in den achtziger Jahren waren es Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Franz Josef Strauß, die uns alle mit Atomkrieg überziehen wollten und Boykottgesetze des US-Kongresses gegen das Apartheid-Regime mit ihrem Veto blockierten. Eigentlich war es ja nur Reagan, der das Gesetz 1985 blockiert hatte – und es dauerte auch nur ein Jahr, bis das Veto im Kongress überstimmt wurde, aber dafür wurde der ANC von Reagan noch 1988 auf die US-Terrorliste gesetzt. Erst 20 Jahre später wurde er mit lauten Entschuldigungen von George W. Bushs Außenministerin, Condoleezza Rice, wieder von der Liste gestrichen.
Nelson Mandela bezieht sein Renommee daraus, dass er damals auf der Gegenseite stand. Seine Freilassungskampagne arbeitete mit einer Reihe simpler, aber eingängiger Bilder. Mandela in seiner Gefängniszelle. Draußen kämpfte seine Frau Winnie für die Freiheit ihres Mannes und gegen die Apartheid. Tanzende, singende und durch Townships rennende Massen recken die Fäuste unter dem Zuruf »Amandla!« (»Power!«), den sie mit »Awethu!« (»Für uns!«) beantworten.
Das war der Kern der Free-Mandela-Kampagne, aufgegriffen von einer internationalen Zivilgesellschaft von Musikern, Hollywood-Stars und dem entstehenden NGO-Milieu. Mandela bemerkte einmal mit seinem typischen trockenen Humor, die Demonstranten in London hätten so wenig über ihn gewusst, dass sie dachten, sein Vorname sei »Free«. Sie hätten bestenfalls gewusst, dass da einer im Gefängnis saß und einer Art grassroots-Gegenkandidat zu Reagan, Thatcher und Strauß entsprach, das reichte schon. So ungefähr funktioniert das heute noch. Nur wollen jetzt alle etwas vom Kuchen.