Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft setzt sich für das Kapital ein

Türöffner und Mietmäuler

Pünktlich zu den Sondierungsgesprächen zwischen der Union, SPD und Grünen präsentiert die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird, ihre neue Lobbykampagne.

»Verfluchte Wahlversprechen« stand auf dem bizarren Geschenk, das die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) zu Jahresbeginn an einflussreiche Menschen in Berlin schickte. Eine Voodoo-Puppe lag in dem Päckchen, das Bundestagsabgeordnete und politische Multiplikatoren bekamen – samt blau befahnten Nadeln mit Begriffen wie »Mindestlohn«, »Frauenquote« und »Vermögensteuer«. Die Voodoo-Puppen sollten die Wähler darstellen. Ein »augenzwinkernder Neujahrsgruß« sei das gewesen, sagte ein Sprecher der INSM. Den fanden nicht nur Abgeordnete von Linkspartei, Grünen und SPD nicht lustig. Der Christdemokrat Frank Heinrich beschwerte sich über die Verharmlosung einer der »grausamsten okkulten Praktiken der Welt«. Seine religiösen Gefühle seien verletzt worden, sagte er dem christ­lichen Medienmagazin Pro.
So etwas liegt der INSM fern. Sie ist für konservative Werte und gegen quasi alle Reformideen, die von links der Mitte kommen – und auch gegen manches, was der fortschrittliche Teil der Union fordert. Sie ist sehr einflussreich, auch weil sie sich gerne als eine Art unparteiliche intellektuelle Bürgerwehr ausgibt. Doch sie ist nichts anderes als eine Vorfeldorganisation der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie. Im Jahr 2013 stecken diese nach eigenen Angaben fast sieben Millionen Euro in die Organisation. Das Geld fließt in aggressive Öffentlichkeitsarbeit. Zurzeit überschwemmt die Initiative Berlin mit Plakaten sowie das Internet und Zeitungen mit Anzeigen. Die Wochen nach der Bundestagswahl sind für Lobbyisten die wichtigsten der Legislaturperiode. Jetzt müssen sie gezielt und effektiv Einfluss nehmen, damit ihre Positionen Eingang in den Koalitionsvertrag finden. Bei der Bildung der schwarz-gelben Regierung 2009 waren die Agitprop-­Aktivisten des Kapitals erfolgreich. Das wollen sie wiederholen.

Anfang Oktober, pünktlich zu den Sondierungsgesprächen von Union, SPD und Grünen, eröffnete die INSM ihre neue Kampagne. »Nach der Wahl und vor dem Koalitionsvertrag erinnern wir die Politik an ihre eigentliche Aufgabe: Antworten auf die großen politischen Fragen zu geben«, verkündet Jörg Ihlau von der beauftragten Agentur Serviceplan Public Opinion. »Um diese Verantwortung zu versinnbildlichen, zeigt die Kampagne deshalb historische Momente und verknüpft die Erinnerungen an die geschichtsträchtigen Ereignisse von damals mit konkreten Herausforderungen von heute.« An der Komischen Oper in Berlin haben die Arbeitgeberlobbyisten ein Riesenplakat anbringen lassen, das die Vereidigung von Angela Merkel als Bundeskanzlerin zeigt. »Erste Bundeskanzlerin können Sie nicht noch mal werden. Aber die erste Kanzlerin, die Schulden abbaut«, steht darauf. Auf Großplakaten wird unter anderem auch Franz-Josef Strauß für die Forderung nach sinkenden Staatsschulden in Anschlag gebracht, Willy Brandt muss für »eine bezahlbare Energiewende« herhalten. Ein weiteres Motiv zeigt die zauselbärtigen grünen Bundestagsabgeordneten Dieter Drabiniok und Gert Jannsen im Kreise ihrer geschniegelten Abgeordnetenkollegen 1983 im Bundestag: »Einen ›Kulturschock‹ im Bundestag gab es schon. Ersparen Sie dem Rentensystem einen Demographieschock.«

Die INSM fordert ein »marktwirtschaftliches Reformpaket«. In Anlehnung an die Agenda 2010 des ehemaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder nennt sie es »Chance 2020«. Manche Punkte gehören zum üblichen Phraseninventar, etwa der Ruf nach Investitionen in frühkindliche Bildung. Einiges aber klingt alarmierend nach US-amerikanischer Tea Party und deren extremer Sozialstaatsablehnung: »Der Wohlfahrtsstaat muss sich konsequent an den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft ausrichten, an Menschen, die sich nicht mehr selbst helfen können, an psychisch Kranken, Behinderten, Kindern.« Alle anderen – sprich: alle Erwachsenen ohne Handicap – sollen also aus der Sphäre des Sozialstaats verbannt werden. Die Lobbyisten kündigen die paritätische Finanzierung der Krankenkassenbeiträge auf, Arbeitnehmer sollen Zusatzbeiträge zahlen. An der Rente mit 67 soll nicht nur festgehalten werden, das Renteneintrittsalter soll an die steigende Lebenserwartung gekoppelt werden. Das würde bedeuten, dass Arme, weil sie eine geringere Lebenserwartung haben als Reiche, den längeren Rentenbezug der Wohlhabenden noch stärker finanzieren würden, als sie es heute schon tun.
Langfristig wollen die Arbeitgeberlobbyisten das politische Klima zu ihren Gunsten beeinflussen. Kurzfristig geht es darum, den Mindestlohn, Steuererhöhungen und die Korrektur der Agenda-Reformen zu verhindern. Galionsfigur der Initiative ist der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident und ehemalige Sozialdemokrat Wolfgang Clement. »Entscheidend ist, dass die Agenda 2010 weiter wirken kann«, meinte Clement. Eine der zentralen Forderungen der Lobbyisten ist, dass Leiharbeit nicht reglementiert wird. Clement hat als Wirtschafts- und Arbeitsminister der Ausbreitung der Leiharbeit den Weg geebnet. Danach war er als Lobbyist für Zeitarbeitsfirmen tätig. Der Öffentlichkeit präsentiert wird er aber nicht in dieser Eigenschaft, sondern als ehema­liger Spitzenpolitiker.

Unter falscher Flagge zu segeln, hat bei der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« Tradition. Schließlich sollen Leser und Zuschauer glauben, sie bekämen die industriefreundlichen Botschaften von unabhängigen Experten präsentiert. Ohne zu kennzeichnen, wer dahinter steckt, haben sie 2007 das Portal unicheck.de ins Internet gestellt, und zwar als Website »von Studenten für Studenten«. Auf den Seiten sollten Studierende Universitäten danach bewerten, wie gut oder schlecht sie Studiengebühren einsetzen. Studiengebühren sollten positiv und als Form der Mitbestimmung erscheinen. In der ARD-Serie »Marienhof« kaufte sich die Initiative für rund 58 700 Euro Dialoge in sieben Folgen. Eine der Botschaften war, Zeitarbeit sei toll. »Die Werbung für die Zeitarbeit im Marienhof muss im Kontext der Forderung nach einer weitgehenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gesehen werden«, stellte die NGO Lobbycontrol damals fest. In der gerade erschienen Kurzstudie »Journalismus und Korruption« von Transparency International listen die Autoren eine ganze Reihe von weiteren Beispielen fragwürdiger Kooperationen von Medien und der INSM auf. So veröffentlichten Zeitungen Artikel der Arbeitgeberinitiative, ohne auf deren Herkunft hinzuweisen.
Gegründet wurde das »nationale Kampagnen-Hauptquartier der Neokonservativen« (The International Economy) im Jahr 2000. Der Name »Neue Soziale Marktwirtschaft« ist eine Erfindung der Werbeagentur Scholz & Friends, die seit 2010 nicht mehr für die INSM tätig ist. Der Name soll einen positiven Bezug zu Ludwig Erhard herstellen, das »Neue« dient dazu, die Sozialordnung der klas­sischen Sozialen Marktwirtschaft als alt und unmodern zu brandmarken. Heute treffen sich hier Ausrangierte mit Türöffnerqualitäten wie Clement, Profilneurotiker wie der ehemalige Grüne und jetzige Christdemokrat Oswald Metzger und Mietmäuler wie der Wissenschaftler Bernd Raffel­hüschen.
Ihr Meisterstück abgeliefert hat die Arbeitgeberinitiative nach der Bundestagswahl 2009. Damals hat sie eine ihrer zentralen Positionen im Koa­litionsvertrag von Union und FDP untergebracht, und zwar zur gesetzlichen Pflegeversicherung. Sie wurde unter Helmut Kohl eingeführt, damit Ältere nicht zu Sozialhilfeempfängern werden, wenn sie pflegebedürftig sind. Das hat nicht geklappt, denn die Zahlungen reichen nicht, um die Kosten im Pflegefall zu decken. Das ist es aber nicht, was die Arbeitgeberinitiative stört. Ihr gefällt der Umlagecharakter nicht – dass jeder bis zu einer bestimmten Höchstgrenze seinen Beitrag zahlen muss und die Einnahmen für die Ausgaben verwendet werden. Sie will eine privatwirtschaftliche Lösung, bei der jeder individuell einen Kapitalstock für die künftige Pflege bildet. Bei einem Finanzdienstleister, versteht sich. Anfang 2013 hat die Bundesregierung den sogenannten »Pflege-Bahr« eingeführt, eine nach dem FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr benannte staatlich bezuschusste private Pflegezusatzversicherung mit Kapitalstock. Das ist der Einstieg in die Pri­vatisierung. Mal sehen, mit was es die »Initiative Soziale Marktwirtschaft« dieses Mal in den Koa­litionsvertrag schafft.