Interview: Ian Haney López im Gespräch über Rassismus und die Debatte um post-racialism

»›Color-blindness‹ ist die Norm«

Ian Haney López ist Professor an der Law School der Universität Berkeley. Er ist Experte für amerikanisches Verfassungsrecht und racial justice. Mit ihm sprachen wir über den Begriff der post-racial-Gesellschaft und über Rassismus im US-amerikanischen Rechtssystem.

Barack Obama hat sich in seiner Wahlkampagne 2008 stark auf die Bürgerrechtsbewegung bezogen. Seit seiner Wahl ist oft die Rede von einer post-racial society. Was bedeutet das? Es gibt zwei Deutungen des Begriffs. Eine behauptet, die Realität zu beschreiben, eine andere versteht den Begriff als politische Strategie. Im ersten Fall wird behauptet, wir lebten in einer post-racial society, dass wir race also hinter uns gelassen hätten und dass gesellschaftliche Ungleichheiten nichts mehr mit Rassismus zu tun hätten. Woher stammt die Idee von post-raciality als soziale Realität ursprünglich? Sie ist als konservative Antwort auf die Bürgerrechtsbewegung entstanden, und die geht so: »Wir haben das Problem mit dem Rassismus gelöst und müssen uns deshalb auch nicht mehr damit befassen.« Das ist nicht mehr der alte Konservatismus, der die rassistische Hierarchisierung der Gesellschaft prima findet und weiße Vorherrschaft verteidigt. Jetzt heißt es: »Wir glauben auch an racial equality, wir sind natürlich auch gegen Jim-Crow-Gesetze und Apartheid, aber die Bürgerrechtsgesetze haben die rassistischen Probleme bereits erledigt.« Und Obamas positiver Bezug auf die Bürgerrechtsbewegung entspricht dann der zweiten Perspektive auf post-raciality? Ja, Liberale und Demokraten antworten mit ihrer eigenen Version von post-racialism. Sie sagen: »Wir wissen, dass race weiterhin ein Problem ist, weil zum Beispiel die durchschnittliche weiße Familie 20 Mal mehr besitzt als eine schwarze Familie.« Doch dann fahren sie fort und sagen, es sei eine schlechte politische Strategie, race zu thematisieren, weil man dann jedes Mal von den Konservativen angegriffen würde. Deshalb adaptieren sie eine post-racialism-Strategie, die so geht: »Wir tun so, als ob race keine Rolle mehr spielt, und werden nicht mehr darüber reden, wenn wir nicht dazu gezwungen werden.« Beide Perspektiven gehören zusammen. Die Konservativen behaupten: »Race is over.« Dann sagen sie: »Und ihr Linken und Liberalen, die ihr immer noch darüber sprecht, ihr seid die wirklichen Rassisten, weil ihr die ganze Zeit versucht, die Gesellschaft zu spalten, indem ihr euch über Rassismus beschwert.« Was hier als sogenannte color-blindness ausgegeben wird, ist tatsächlich ein sehr wirkungsvoller Angriff auf die Thematisierung von Rassismus. Können Sie Bedeutung und Herkunft des Begriffs color-blindness erklären? Es ist ein sehr machtvoller Begriff. Er stammt aus der Entscheidung des Supreme Court von 1896 im Fall Plessy vs. Ferguson. In diesem Fall musste das Gericht zum ersten Mal darüber entscheiden, ob Bundesstaaten rassistische Segregation im öffentlichen Leben, also in öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen, Gerichten, Theatern, Restaurants und so weiter anordnen können. Sieben der neun der Richter entschieden, rassistische Segregation sei verfassungsgemäß. Nur einer, John Marshall Harlan, votierte dagegen. Er argumentierte, unsere Verfassung sei »farbenblind« und kenne keine gesellschaftlichen Kasten. Das war damals eine absolute Minderheitenposition. Der Begriff color-blindness erhielt dann seine Bedeutung als generelle Ablehnung rassistischer Segregation und wurde in den vierziger und fünfziger Jahren von der Bürgerrechtsbewegung übernommen. Farbenblindheit war damals also ein politisches Ziel der Bewegung? Ja. Color-blindness ist aber nur so lange eine radikale Forderung, wie der Staat per Gesetz segregiert. Wenn er es nicht mehr tut, hat color-blindness keine emanzipatorischen Auswirkungen mehr. Das Konzept besagt nämlich, dass der Staat race nicht berücksichtigen darf. Dann kann er aber nicht mehr auf Ungleichheit reagieren. Wie äußerte sich das in der Praxis? 1954 begann der Supreme Court mit dem verfahren Brown vs. Board of Education, die US-amerikanische Apartheid zu demontieren. Kurz darauf übernahmen Konservative die Rede von color-blindness. Sie argumentieren: »Die Verfassung ist farbenblind, der Staat darf also nicht auf race zurückgreifen, um zu diskriminieren, aber auch nicht, um zu integrieren.« Die heute vorherrschende Auffassung des Supreme Court lautet entsprechend: Der Staat verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gleichheitsprinzip, wenn er versucht, race als Basis für Inklusionsmaßnahmen, etwa an vorher segregierten Schulen, zu verwenden. 2009 ging das Gericht bei der Bewertung eines Beförderungsverfahrens der städtischen Feuerwehr von New Haven sogar so weit zu sagen, das Prinzip der Farbenblindheit sei verletzt, wenn der Staat race berücksichtigt, um Diskriminierung vorzubeugen. Der Supreme Court entschied, dass eine Berücksichtigung möglicher Diskriminierung von rassifizierten Minderheiten im Rahmen des Verfahrens das Prinzip von color-blindness verletze, weil dadurch weiße Anwärter benachteiligt würden. Ist das der aktuelle Stand im US-Antidiskriminierungsrecht? Ja. Color-blindness ist die herrschende Norm. Immer, wenn jemand explizit auf race Bezug nimmt, gilt das als Diskriminierung. Das gilt auch für staatliche Maßnahmen gegen Rassismus. Heutzutage ist das Verfassungsrecht gegen rassistische Diskriminierung in den USA in sein Gegenteil verkehrt. Der Supreme Court hat seit 1979 keine Diskriminierung rassifizierter Minderheiten, egal ob Afroamerikaner oder Latinos, fest­gestellt, aber zahlreiche affirmative-action-Programme für verfassungswidrig erklärt. Nach Auffassung der Gerichte gibt es keine Diskriminierung gegen Minderheiten, aber Indizien für eine um sich greifende Diskriminierung von Weißen. Was sollten progressive Linke angesichts dessen tun? Die Linke muss wieder über die rassistische Spaltung der Gesellschaft reden. Die Angst und das Schweigen der Liberalen haben den Konservativen erlaubt, den Begriff Rassismus zu kapern und neu zu definieren. Zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung haben wir erkannt, dass Rassismus nicht nur ein persönliches Ressentiment ist, sondern auch tief in der Kultur und den Strukturen der Gesellschaft verankert ist, etwa beim Zugang zu Bildung und Jobs. Dieses Bewusstsein unterschiedlicher Dimensionen von Rassismus ist in den vergangenen 40 Jahren verloren gegangen. Inzwischen lassen wir zu, dass Konservative Rassismus nur noch als persönliches Ressentiment definieren. Wenn Liberale darauf keine Antwort finden, dann haben wir keine Sprache mehr, um darüber zu reden, in welchen Dimensionen Rassismus als gesellschaftliches Problem weiter besteht. Heißt das, man drückt sich einfach etwas subtiler aus? Genau. »Rasse« ist im Grunde eine Erzählung, die Kultur, Verhaltensmuster und Biologie verknüpft. Die ältere Version von Rassismus setzt primär auf Biologie: Jemand ist schwarz, dann sagt uns die schwarze Hautfarbe, dass die Person dumm, kriminell und schmutzig ist. Wenn jemand Latino ist, dass die Person feige, kriminell und faul ist. Der neue Rassismus verzichtet auf explizite biologistische Bezüge, aber behält die alten Stereotype. Der neue Diskurs in den USA dreht sich daher um angeblich faule Sozialhilfeempfänger, Kriminelle, die angebliche »Invasion illegaler Ausländer« – all diese Formulierungen rufen die alten rassistischen Vorurteile ab, ohne dass race explizit erwähnt wird. Solange Konservative nicht von »dem Schwarzen« reden oder gar beleidigende Ausdrücke benutzen – wie etwa wetback für Mexikaner –, behaupten sie, es könne sich unmöglich um Rassismus handeln. Das klingt so, als hätte sich Rassismus in den USA grundsätzlich gewandelt. Ist das aus ­Ihrer Sicht ein Erfolg der Bürgerrechtsbewegung oder haben Konservative durch diese subtile Form des Rassismus letztlich an Boden gewonnen? Wie ist der Stand der Emanzipa­tion in den USA im Vergleich zu vor 50 Jahren? Ich denke, das Resultat ist widersprüchlich. Vor 50 Jahren hatte Rassismus die Form gesellschaftlicher Kastenzugehörigkeit, in der fast alle Minderheiten schlechter dran waren als Weiße. Der größte Erfolg ist wohl, dass das heute nicht mehr so ist. Heute gibt es eine viel größere afroamerikanische und hispanische Mittelklasse. Das ist ein echter, messbarer Fortschritt. Obamas Wahl war tatsächlich der Vorbote einer unglaub­lichen Veränderung dessen, wie race heute hierzulande funktioniert. Es gibt heute Möglichkeiten der Inklusion derer, die zuvor zu den Ausgeschlossenen gehörten. Wir sollten anerkennen, dass es zu bemerkenswerte Verbesserungen in den letzen 50 Jahren gekommen ist. Aber...? Aber es wäre naiv zu denken, dass race verschwunden ist. In jeder beliebigen amerikanischen Stadt sieht man, wie sie mit Armut und Privilegien korreliert. Oder sehen Sie sich die Zusammensetzung des Kongresses oder amerikanischer Aufsichtsräte an. Es ist offensichtlich: Race ist weiterhin sehr wirkmächtig.