Beten auf dem Football-Feld

Quarterback in Sektenhand

Der US-Footballer Tim Tebow stellt seinen Glauben gern öffentlich zu Schau. Anders als in Europa wird in den USA jedoch über Sportler, die evangelikalen Sekten angehören, heftig diskutiert.

Kaum ein anderer Sportler beschäftigt die Öffentlichkeit in den USA derzeit so sehr wie Tim Tebow, der Quarterback der Denver Broncos in der National Football League (NFL). Diskutiert werden jedoch weniger seine sportlichen Qualitäten, obwohl es immer wieder einige Experten gibt, die ihm die Tauglichkeit für die NFL absprechen. Es geht vielmehr um Tebows offen zur Schau gestellte Religiosität. Zwar sind gläubige Sportler in den USA alles andere als eine Seltenheit, doch nur wenige gehen mit ihrer Frömmigkeit derart offensiv um wie der 24jährige Spieler der Broncos. Seine Angewohnheit, auf dem Spielfeld niederzuknien und, den Ellenbogen aufs Knie gestützt und das Gesicht auf die geballte Faust gesenkt, zu beten, ist mittlerweile sprichwörtlich und zugleich sein Markenzeichen geworden.
Seine Vorliebe fürs öffentliche Gebet machte Tebow sehr schnell bekannt, viel bekannter jedenfalls, als es seine sportlichen Leistungen als zwar guter, aber selten zum einsatz kommender Ersatzmann des Stammquarterbacks Kyle Orton allein gerechtfertigt hätten. Dabei fällt vor allem auf, dass in den Medien hauptsächlich darüber diskutiert wird, ob und inwiefern es legitim ist, wie der Footballspieler seine Frömmigkeit öffentlich inszeniert. Relativ selten geht es darum, an was er glaubt. Dabei gäbe es gerade diesbezüglich eine ganze Menge zu diskutieren, denn Tebow ist evangelikaler Christ. Er ist Abtreibungsgegner, gehört einer Kirche an, die Homosexualität für eine Sünde hält, und machte während des letztjährigen Super Bowls Reklame für »Focus on the Family«, eine bedeutende Organisation der christlichen Rechten in den USA.
Vielleicht weiß es Tebow aber auch einfach nicht besser. Er wurde auf den Philippinen geboren, wo seine Eltern als Missionare tätig waren, und wurde, anstatt zur Schule zu gehen, von seiner Mutter zu Hause unterrichtet. Mit diesem »Homeschooling«, das sich besonders unter fundamentalistischen Christen einer großen Beliebtheit erfreut, wurde er während seiner gesamten Kindheit und Jugend von der Außenwelt abgeschirmt. Er verbrachte also einen großen Teil seines Lebens in einer christlich-evangelikalen Parallelwelt, in einem Mikrokosmos aus Kirchengemeinde und Kleinfamilie. Die einzige Ausnahme bildete der American Football. Eine Sonderregelung des Schulgesetzes in seinem Heimatstaat Florida ermöglichte es ihm, in einem regulären High-School-Team zu spielen, obwohl er gar keine High School besuchte. Dank seiner sportlichen Leistungen konnte er später auch ein College besuchen. Der American Football war Tebows Tor zur Welt.
Der Sportler mag ins Klischeebild passen, das viele Menschen in Europa von den USA haben. Doch würde über seine Person wohl kaum derart kontrovers diskutiert werden, wenn es nicht auch bedeutende Teile der US-Gesellschaft gäbe, die mit dem christlich-fundamentalistischen Treiben von Tebow und anderen ganz und gar nicht einverstanden sind.
In Europa findet eine vergleichbare Diskussion dagegen nicht statt. Dabei gibt es auch hier genügend Sportler, an denen sie sich entzünden könnte. Nehmen wir nur einmal den Fußball, den sicher populärsten Sport auf dieser Seite des Atlantiks. Rune Bratseth, Kaká, Lúcio, Cha Du-ri, Zé Roberto, Gerald Asamoah  – die Liste gläubiger Christen im Profifußball ist lang und ließe sich beliebig fortsetzen. Auch Dortmunds Trainer Jürgen Klopp erzählt gerne, dass er täglich betet, der ehemalige Bundesligaschieds­richer Markus Merk war bekannt dafür, sich vor jedem Spiel im Anstoßkreis zu bekreuzigen. Der deutsche Nationalspieler Cacau sitzt sogar im Kuratorium des evangelikalen Missionsvereins »Pro Christ«, zusammen mit Günther Beckstein übrigens.
Entscheidend ist, dass sich weder in Deuschland noch in einem anderen europäischen Land jemand daran zu stören scheint. Tim Tebow würde zwischen den Hunderten von Spielern, die sich hier Woche für Woche vor dem Anpfiff oder nach geschossenen Toren bekreuzigen, wohl kaum auffallen.
Ein überproportional großer Anteil der besonders gläubigen Fußballer in Europa kommt aus Brasilien. Das ist kein Zufall, sondern lässt sich damit erklären, dass Brasilien einer der regionalen Schwerpunkte der evangelikal-christlichen Mission ist. Über 15 Prozent der Bevölkerung des traditionell katholisch geprägten Landes bekennen sich mittlerweile zu dieser Form des protestantischen Christentums. Nicht nur in Brasilien, auch in anderen Ländern Lateinamerikas und im subsaharischen Afrika haben fundamentalistische Auslegungen des Christentums enormen Zulauf. Doch auch in Europa wollen die Evangelikalen missionieren, und Fußballer wie Kaká, Lúcio oder Cacau lassen sich gerne dafür einspannen. Immerhin gilt es, die Seelen der Ungläubigen vor dem Höllenfeuer zu retten.
Längst ist das evangelikale Christentum die am schnellsten wachsende Glaubensrichtung in Deutschland. Die gesellschaftliche Empörung bleibt aus, obwohl es die Bewegung im Gegensatz etwa zum muslimischen Fundamentalismus bereits in die Führungsebenen der Bundespolitik geschafft hat. Volker Kauder, der Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, gehört zum Beispiel zur »Evangelischen Allianz«. Bundespräsident Christian Wulff, obwohl selbst Katholik, steht den Evangelikalen nahe und sitzt im Kuratorium von »Pro Christ«. Vielleicht nimmt die bundesdeutsche Öffentlichkeit die evangelikale Bewegung nicht wirklich ernst, weil das Problem des christlichen Fundamentalismus für gewöhnlich als ein amerikanisches gilt. Dass das evangelikale Christentum längst auch hier angekommen ist, passt nicht so recht in das Selbstbild der vermeintlich aufgeklärten deutschen Gesellschaft.
In den USA, wo der Einfluss fundamentalistischer Christen seit langem ein entscheidender Machtfaktor ist, wird die Bedrohung der Menschen- und Bürgerrechte durch die christliche Rechte sehr viel ernster genommen. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb sich an Tim Tebow ein derartiger Streit entzünden konnte. Er ist zu einem Symbol geworden, an dem sich das liberale, laizistisch orientierte Spektrum abarbeiten kann, während er den Evangelikalen als Werbe- und Identifikationsfigur dient. Es geht schon lange nicht mehr um Tebow oder um seine krude Weltanschauung, die so weit verbreitet und hinreichend bekannt ist, dass sie nicht einmal mehr explizit benannt werden muss. Immerhin stellen evangelikale Christen etwa ein Viertel der US-Bevölkerung. Es geht um den Kampf einer tief gespalteten Gesellschaft mit sich und um sich selbst. Es geht um das Selbstverständnis eines Landes, das die einen als »land of the free« und die anderen als »God’s own country« betrachten. Hierzulande wird eher versucht, das Problem auszusitzen und zu verdrängen. Aber auch das hat ja bekanntlich Tradition.