Die Debatte in Israel nach dem Gefangenenaustausch

Schwierige Partnersuche

Das Abkommen über die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit bleibt in Israel umstritten. Obwohl einige ihrer Mitglieder zu den Freigelassenen gehören, befürchtet auch die Fatah ein Erstarken des palästinensischen Terrorismus und der Hamas. Mit der Fatah und der Initiative von Mahmoud Abbas für eine palästinensische Staatsanerkennung hat wiederum die israelische Regierung Probleme.

Am Dienstag vergangener Woche ging eine der längsten politischen Kampagnen in der israelischen Geschichte zu Ende. Mit der Freilassung des Soldaten Gilad Shalit, der im Juni 2006 von der Hamas entführt worden war, kam auch eine Solidaritätsbewegung zu ihrem Ende, die zeitweilig Tausende Israelis mobilisieren konnte und es geschafft hat, die Rettung Shalits zu einem nationalen Anliegen zu machen. Während der Gefangenschaft des jungen Soldaten gab es kaum einen Tag, an dem in den israelischen Großstädten nicht irgendwo eine Mahnwache abgehalten wurde, und überall prangten Transparente, Fähnchen und Aufkleber, die trotzig behaupteten: »Gilad lebt noch!« Nun hat sich nicht nur diese Behauptung als wahr erwiesen, sondern Shalit ist tatsächlich frei.
Nie zuvor hat ein »Gefangenenaustausch« ein solches Medienecho hervorgerufen. Die gesamte Woche über dominierte er die Berichterstattung in Israel, lediglich der tote Gaddafi schaffte es, Shalit für kurze Zeit von den Titelseiten zu verdrängen. Zeitweise haben 70 Prozent aller Israelis die Vorgänge vor dem Fernseher mitverfolgt. Auf einer Militärbasis in der Nähe des Grenzübergangs, an dem Shalit freigelassen wurde, fand ein Festakt statt, an dem die Spitzen von Regierung und Militär teilnahmen. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ließ es sich nicht entgehen, den Freigelassenen persönlich in Empfang zu nehmen und medienwirksam seinen Eltern zu »übergeben«.

Dass Shalit ausgerechnet jetzt freikam, ist kein Zufall. Sowohl Netanyahu als auch die Hamas brauchten dringend einen politischen Erfolg. Netanyahu ist durch die sozialen Proteste des Sommers politisch geschwächt und hat in der Bevölkerung an Popularität verloren. Bisher konnten weder die Opposition im Parlament noch Konflikte innerhalb der Koalition die Regierung erschüttern. Die Protestbewegung hatte zwar zunächst auch keine greifbaren Veränderungen bewirkt, dennoch stellte sie die erste ernstzunehmende Gefahr für den Bestand der Regierung dar.
Währenddessen hat die Hamas schwer unter dem Zuwachs an Popularität gelitten, den die Fatah des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas im Zuge ihrer Bemühungen um die staat­liche Anerkennung Palästinas durch die Vereinten Nationen erlebt hat. Auch hat der arabische Frühling, soweit er die Palästinensergebiete überhaupt erreichte, eher der mit Syrien verbündeten Hamas geschadet, während ihn die Fatah-Führung bisher erstaunlich unbeschadet überstanden hat. Schon lange nicht mehr war ihre Position unter den Palästinenserinnen und Palästinensern in der Westbank so unangefochten wie in den vergangenen Wochen.
Nicht nur die Hamas, auch die israelische Regierung sieht im Erstarken von Abbas eine Bedrohung. Seit dem UN-Antrag bemühte sie sich verstärkt, ihn innerhalb Palästinas sowie international zu delegitimieren. So konnte auch die Vereinbarung mit der Hamas schließlich zustande kommen. Am frühen Morgen des 18. Oktober wurde Shalit über die ägyptische Grenze gebracht und von den Ägyptern dann den Israelis übergeben. Unmittelbar danach wurde die erste Hälfte der palästinensischen Häftlinge ebenfalls an Ägypten übergeben. Einem Teil der aus der Westbank stammenden Häftlinge ist die Rückkehr dorthin untersagt, sie wurden stattdessen in den Gaza-Streifen gebracht. Etwa 40 als besonders gefährlich geltende Häftlinge wurden ins Ausland überführt. Erstmals hat die israelische Regierung einige arabische Israelis in den Austausch einbezogen. Weitere 550 Häftlinge sollen innerhalb der nächsten zwei Monate freigelassen werden.

Sowohl im Gaza-Streifen wie in der Westbank wurden die Freigelassenen mit großem Jubel empfangen. In Ramallah trat erstmals seit langer Zeit Mahmoud Abbas gemeinsam mit führenden Vertretern der Hamas auf. Lange waren nicht mehr so viele grüne Hamas-Fahnen in Ramallah zu sehen gewesen. Im Gaza-Streifen konnte die Hamas ihren Erfolg ohne die lästige Konkurrenz feiern. Hier wurden die freigelassenen Häftlinge von der Menge mit dem Ruf »Wir wollen einen neuen Shalit!« begrüßt. Einige der Häftlinge machten deutlich, dass sie der Sympathie mit dem Terrorismus keineswegs abgeschworen haben. Wafa al-Biss, die 2005 bei einem versuchten Selbstmordanschlag auf die Universitätsklinik in Be­er-Sheva festgenommen worden war, ließ es sich nicht nehmen, einer Gruppe von Schülerinnen und Schüler nahezulegen, ihrem Beispiel zu folgen. Der Führer des militärischen Arms der Hamas, Ahmed Jabari, erklärte in einem Interview, dass die Organisation weitere Entführungen plane.
Solche Aussagen bestätigten die Kritik am Shalit-Abkommen, die insbesondere von rechten israelischen Politikern vorgebracht wird. Nicht nur würden durch ihn eine Reihe aktiver Terroristen wieder auf die Israelis losgelassen, vor allem würden Organisationen wie die Hamas und die liba­nesische Hizbollah regelrecht dazu aufgefordert, weitere Soldaten zu entführen. Diese Befürchtung wird von manchen Vertretern des Sicherheitsapparates geteilt. Allerdings haben es weder die Kritiker in der Regierung noch diejenigen in Armee und Geheimdienst gewagt, öffentlich gegen den Austausch Partei zu ergreifen.
Auch Oppositionsführerin Tzipi Livni von der Kadima-Partei traute sich offenbar nicht, der öffentlichen Meinung zu widersprechen. Zwar ist es kein Geheimnis, dass sie dem Deal ablehnend gegenübersteht. Doch erst fünf Tage nach dem Austausch äußerte sie in einem Interview vorsichtige Kritik. Der Austausch habe die Hamas gestärkt und Israels Abschreckungspotential verringert. In der israelischen Presse erntete sie scharfe Kritik dafür, dass sie sich als Führerin der stärksten Oppositionspartei zu einer Frage von solcher nationalen Tragweite lange Zeit überhaupt nicht geäußert hatte.
Auf palästinensischer Seite wird Kritik bisher ebenfalls nur hinter vorgehaltener Hand formuliert. In einem ausführlichen Interview mit der Tageszeitung Haaretz erklärte ein hochrangiger Fatah-Funktionär, der nicht genannt werden wollte, dass der Austausch die Sicherheitspartnerschaft zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde und Israel zu unterminieren drohe. Tatsächlich hatte sich auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren eine Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern etabliert, die zu einem fast völligen Versiegen terroristischer Aktivitäten in der Westbank führte.
Nun hätten es die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde mit einer Reihe freigelassener Hamas-Aktivisten zu tun, die unter Umständen wieder zu den Waffen greifen würden, sagte der Fatah-Funktionär. Überdies würde sich die Präsenz der Hamas in der Westbank verstärken, zumal auch einige der dortigen Führer der Organisation zu den Freigelassenen gehörten. Vor allem aber motiviere der Austausch nun auch Fatah-Aktivisten und Leute, die keiner Organisation angehörten, zu solchen Entführungsaktionen. Immer noch befinden sich Tausende von Palästinensern in israelischen Gefängnissen. Viele von ihnen sind Angehörige der Fatah oder stehen ihr nahe.
Für den Fatah-Funktionär ist es unverständlich, weshalb die israelische Regierung sich weigert, mit der Autonomiebehörde die Freilassung einer großen Zahl dieser Gefangenen zu vereinbaren, während sie mit der Hamas eine solche Vereinbarung trifft. Tatsächlich lässt sich dies eigentlich nur so verstehen, dass sie eine Schwächung der von der Fatah geführten Autonomiebehörde entweder anstrebt oder mindestens in Kauf nimmt. Die israelische Regierung scheint ihr Mantra, dass es auf palästinensischer Seite keinen Verhandlungspartner gebe, dadurch wahr machen zu wollen, dass sie den einzig möglichen Partner konsequent delegitimiert.

Mittlerweile hat Netanyahu den Palästinensern angeboten, die Bautätigkeit in den besetzten Gebieten teilweise auszusetzen. Ein Baustopp in den Siedlungen ist die Bedingung der Palästinenser, um die direkten Verhandlungen wieder aufzunehmen. Allerdings erwies sich das angebliche Angebot Netanyahus schnell als dürftig. Der Baustopp sollte sich nämlich nur auf öffentliche Baumaßnahmen beziehen, während die meisten von privater Seite durchgeführt werden. Gleichzeitig mit der Bekanntgabe des Shalit-Austausches setzte das israelische Kabinett außerdem eine Arbeitsgruppe ein, die die Legalisierung von Siedlungsvorposten vorbereiten soll. Und nur we­nige Tage zuvor wurde der Plan bekanntgegeben, ein neues jüdisches Viertel im Ostteil Jerusalems zu errichten.
Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die Kritik der israelischen Linken am »Gefangenenaustausch« auf dessen politische Auswirkungen. Er kann, so die übereinstimmende Ansicht der meisten Kommentatoren der Haaretz, nur zur Folge haben, dass die Abwendung der Mehrheit der Palästinenser von einer gewaltsamen Strategie – eine der wichtigsten, wenn nicht die einzige positive Entwicklung der vergangenen Jahre – in Frage gestellt wird. »Wieder einmal«, so der Kolumnist Akiva Eldar in der Haaretz, »mussten die Palästinenser den Schluss ziehen, dass der diplomatische Prozess sie in eine Sackgasse führt, während Entführungen Hunderte von ihnen aus dem Gefängnis holen.«
Noch gibt es eine Möglichkeit, diesen Schaden wenigstens zu begrenzen. Die israelische Regierung kann selbst entschieden, welche Häftlinge zu den noch freizulassenden 550 gehören sollen. Mahmoud Abbas hat die Israelis bereits aufgefordert, die Zusammensetzung dieser Gruppe gemeinsam festzulegen. Dieser Forderung schlossen sich die Herausgeber der Haaretz ebenso an wie Livni. Inzwischen hat auch die Armeeführung deutlich gemacht, dass sie Maßnahmen für dringend notwendig erachtet, die Abbas und seine Regierung stützen. Dazu könnte gehören, außer den 550 zusätzlich Fatah-Gefangene freizulassen sowie weitere Gebiete der Westbank der palästinensischen Autonomiebehörde zu übergeben. Die Regierung lehnt dies bislang ab und will Abbas stattdessen weiterhin für die UN-Kampagne »bestrafen«. Für den Friedensprozess, und damit für eine dauerhafte Sicherheit Israels, wird viel davon abhängen, ob die israelische Regierung in Zukunft bereit sein wird, die gemäßigten Kräfte auf Seiten der Palästinenser aktiv zu unterstützen. Nach dem Shalit-Deal das jedoch wieder einmal unwahrscheinlicher geworden.