Der 50. Jahrestag des Massakers von Paris

Leichen im Fluss

In Frankreich wird des 50. Jahrestags des Massakers von Paris gedacht. Am 17. Oktober 1961 töteten Polizisten etwa 300 un­bewaffnete algerische Demonstranten.

Jahrzehntelang herrschte Schweigen. Dass noch 1961 mitten in Paris Hunderte Zivilisten massakriert wurden, war für die Konservativen ein Tabu­thema, aber auch von den Parteien der etablierten Linken war kaum Kritik zu hören. Das scheint sich nun zu ändern. Noch nie sprach man in Frankreich so viel von den Ereignissen des 17. Oktober 1961 wie vor deren 50. Jahrestag.
Ende September haben die etablierten Parteien der Linken zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik eine Mehrheit im Senat, dem parlamentarischen Oberhaus, errungen. Nun sind neue Initiativen zur Anerkennung des Mords an etwa 300 Nordafrikanern geplant. Der jüngst gewählte sozialistische Senator David Assouline kündigte am Montag an, er werde sich dafür einsetzen, dass der Senat eine Gedenkplakette an der Seine-Brücke von Saint-Michel anbringt, einem der Schauplätze des Massakers.
Bereits im Herbst 2001, vor dem 40. Jahrestag, ließ die damalige rosa-rot-grüne Kommunalregierung unter Bertrand Delanoë eine Plakette »zur Erinnerung an die zahlreichen getöteten Algerier« an der Brücke von Saint-Michel anbringen. Dies war die erste ausdrückliche Anerkennung von offizieller Seite, dass ein Massaker stattgefunden hatte.
Assouline erinnerte am Montag während einer Veranstaltung vor mehreren Hundert Teilnehmern an die Sitzung im Pariser Stadtparlament vom 24. September 2001. Auf die Attentate vom 11. September anspielend, habe die Rechte damals gewettert, es handele sich bei der geplanten Anbringung der Gedenkplakette um »eine Provokation«, die »gerade jetzt falsch« sei. Assouline erinnerte auch an eine Debatte am selben Ort, die 1961 stattfand. Stadtverordnete der regierenden Rechten forderten damals, all diese »feindlichen Agenten« – gemeint waren die im Raum Paris lebenden Algerier – müsse man »vom französischen Territorium entfernen«. »Leider«, habe einer von ihnen bedauert, »liegt es nicht in der Kompetenz des Stadtrats von Paris, die dafür benutzten Schiffe zu versenken«.
Die Veranstaltung am Montag war nur der Auftakt zu einer Serie von Veranstaltungen, die in den Tagen vor dem 17. Oktober stattfinden werden. Einer der Höhepunkte wird, neben einem internationalen Kolloquium am Samstag in den Räumen der französischen Nationalversammlung mit französischen, britischen und algerischen Historikern, eine Demonstration am Montag kommender Woche sein. Sie wird vor dem Cinéma Rex im Pariser Zentrum beginnen und zur Seine-Brücke von Saint-Michel führen, also von einem der Orte, wo zuerst viele Algerier erschossen und erschlagen wurden, zum Hauptschauplatz des Massakers. Die Brücke Saint-Michel liegt in unmittelbarer Nähe der Polizeipräfektur, in deren Innenhof viele der Opfer erschlagen wurden. Auch waren viele von ihnen an dieser Stelle, gefesselt oder durch Schläge betäubt, ins kalte Flusswasser geworfen worden.

Auf der Demonstration sollen 300 Schilder mit den Namen der bekannten Opfer und an jenem Tag »Verschwundenen« getragen werden. Von den Grünen über die radikale Linke bis zu den großen Gewerkschaften CGT und CFDT sowie Migrantenvereinigungen rufen unterschiedliche Gruppierungen zu der Demonstration auf. Auch in Nanterre, Bobigny und mehreren anderen Vorstädten der Hauptstadt, in Grenoble, Montpellier, Lyon, Marseille und andernorts werden Theaterstücke, Demonstrationen, Debatten und Filmvorführungen zum Thema stattfinden.
Nanterre ist eine jener Industriestädte, in denen 1961 noch Holz- und Blechbaracken das migrantische Proletariat beherbergten. Aus den als bidonvilles (Kanisterstädten) bezeichneten Slums, die in den siebziger Jahren zerstört wurden, strömten an jenem 17. Oktober 1961 die algerischen Arbeiter aus den westlichen Vororten auf den Pariser Place de l’Etoile. Zuvor hatten viele Zeitungen bereits gegen die »nordafrikanische Invasion mitten in Paris« gehetzt.
Es ging damals darum, gegen eine abendliche und nächtliche Ausgangssperre zu protestieren, die am 5. Oktober über alle in der Region um Paris lebenden Algerier – da die Polizei nach rassistischen Kriterien verfuhr, faktisch über alle Nordafrikaner oder »südländisch Aussehenden« – verhängt worden war. Frankreich befand sich in der Endphase seines blutigsten Kolonialkonflikts, des Algerienkriegs, der im November 1954 mit dem Aufstand des FLN begonnen hatte.
Während eine wachsende Zahl von Franzosen kriegsmüde war, hielt ein Teil der Gesellschaft und des Staatsapparats an der französischen Herrschaft über Algerien fest, das ideologisch und juristisch nicht als Kolonie, sondern als »Bestandteil des Mutterlands« betrachtet wurde. Denn das nordafrikanische Land diente nicht allein als Rohstofflieferant, sondern auch als Kolonie für Siedler. Der FLN war auch auf französischem Boden aktiv, vor allem durch das Sammeln von Geld unter algerischen Migranten. Mitunter verübte er auch Anschläge auf militärische Ziele.

An jenem Abend waren die Demonstranten, auf ausdrückliche Anordnung des FLN, ausnahmslos unbewaffnet. Die ersten Protestierenden wurden bereits auf der Brücke von Neuilly erschossen, die den Westeingang des Pariser Stadtgebiets markiert. Doch die 20 000 bis 30 000 Demons­tranten drängten nach und marschierten zum Stadtzentrum. Dort wartete die prügelnde, schießende und mordende Polizei, die von dem berüchtigten Präfekten Maurice Papon kommandiert wurde.
Mehr als 600 Menschen verschwanden. Es wird geschätzt, dass etwa die Hälfte von ihnen ermordet wurde, die anderen waren vermutlich aus Angst vor einer Inhaftierung untergetaucht. Etwa 12 000 Nordafrikaner wurden festgenommen und in improvisierte Internierungslager gepfercht, etwa in der Pferderennbahn von Vincennes, die im Stadtwald südöstlich von Paris liegt.
In der Öffentlichkeit herrschte jahrzehntelang fast ausnahmslos Schweigen über dieses, abgesehen von der Mitverantwortung für den Völkermord in Ruanda im Jahr 1994, vielleicht dunkelste Kapitel der Geschichte Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die meisten linken Organisationen thematisierten den 17. Oktober 1961 nicht. In der Geschichtsschreibung der lange Zeit bedeutendsten linken Partei, der KP, und der jahrzehntelang mit ihr verbündeten Gewerkschaft CGT wurde dieses Ereignis konsequent verdrängt.
Zwar legten einige Mitglieder der KP, wie Georges Azenstarck, der Fotograf der Parteizeitung L’Humanité, der die Leichen vor dem Cinéma Rex mit eigenen Augen gesehen und auch fotografiert hatte, immer wieder Zeugnis ab. Azenstarcks eindrücklichste Fotos verschwanden jedoch in den Archiven von L’Humanité. Die Zeitung, deren damaliges Redaktionsgebäude sich gegenüber des Cinéma Rex befand, öffnete ihre Räumlichkeiten an jenem Abend nicht für die verfolgten Algerier. Der Direktion war offenbar das Ausmaß des Terrors nicht klar.

In der späteren Geschichtsdarstellung der KP überwog stets ein anderes Ereignis, um die Schrecken der Kolonialkriege zu illustrieren: Am 8. Februar 1962 waren in Paris bei einer Demonstration für »Frieden in Algerien« – explizit für die Unabhängigkeit eintreten wollte die Partei, anders als die radikale Linke, damals nicht – neun Mitglieder der KP und des CGT in und nahe der Métrostation Charonne von der Polizei getötet worden. Das Massaker von Charonne war in der offiziellen Parteigeschichte lange bedeutender als der Tod der 300 Algerier.
Nur die radikalere Linke thematisierte mitunter den »17. Oktober«. Der antikolonialistische Filmemacher René Vautier trat 1973 in den Hungerstreik gegen das Verbot des Films »Oktober in Paris«, der 1962 von der Polizei beschlagnahmt worden war. Vautier erreichte eine Freigabe. In den achtziger Jahren war die Erinnerung anscheinend verblasst. Mouloud Aounit, der frühere Vorsitzende der antirassistischen Gruppe MRAP, erinnerte am Montag daran, dass »wir vor 30 Jahren mit höchstens 20 Leuten auf der Seinebrücke standen«. Die Protestierenden waren am damaligen Gedenktag »nicht einmal zahlreich genug, um alle Transparente hochzuhalten, die wir mitgebracht hatten.«
1991 erschien zum 30. Jahrestag des Massakers das Buch »La bataille de Paris« (Die Schlacht von Paris), der Titel ist eine Anspielung auf die »Schlacht von Algier«, die im Jahr 1957 während des Algerienkriegs stattfand. Der Historiker Jean-Luc Einaudi machte mit diesem Buch zum ersten Mal die Ereignisse einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Vier Jahre später erschien »Le silence du fleuve« (Das Schweigen des Flusses), ein Buch der Journalistin Anne Tristane, das einige der wenigen vorhandenen Fotos zum Thema enthielt. Im anarchistischen Sender Radio Libertaire fanden 1995 Debatten zum Thema statt.
Am 26. März 1999 wies die auf »Pressestraftaten« wie Beleidigung und Diffamierung spezia­lisierte Strafkammer des Pariser Gerichts eine Klage von Maurice Papon, des Hauptverantwortlichen für das Massaker, gegen Jean-Luc Einaudi in allen Punkten zurück. Papon hatte gegen den Historiker ein Verfahren wegen übler Nachrede angestrengt.
Maurice Papon war den meisten aufmerksamen Zeitungslesern in einem anderen Zusammenhang bekannt. Im April 1998 war er wegen Verbrechen gegen die Menschheit, die er als Generalsekretär der Präfektur im von den Deutschen besetzten Bordeaux begangen hatte, zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Wegen seines angeblich schlechten Gesundheitszustands verbrachte er nur zwei Jahre im Gefängnis. Papon starb Anfang 2007 und wurde, auf eigenen Wunsch und nach einer kurzen, aber heftigen öffentlichen Polemik, mit seinem Verdienstkreuz beerdigt.
Offensiv verteidigt werden Papon und das Massaker nicht mehr. Die Konservativen scheinen ihren Kampf gegen die historische Wahrheit aufgegeben zu haben. Die Fakten sind mittlerweile in der Öffentlichkeit bekannt, doch die Aufarbeitung dieses Kapitels der französischen Geschichte hat erst begonnen.