Der Wahlkampf in der Türkei

Erdogan im Größenwahn

Der Ausschluss kurdischer Kandidatinnen und Kandidaten von der Parlamentswahl im Juni löste im Südosten der Türkei heftige Proteste aus. Einige Tage später revidierte die Wahlkommission ihre Entscheidung. Der Regierungspartei AKP wird vorgeworfen, hinter dem Versuch zu stecken, kurdische Abgeordnete auszuschließen.

Nach dem Referendum über eine Reihe von Verfassungsänderungen im vergangenen September schienen die nun bevorstehenden Parlamentswahlen am 12. Juni bereits entschieden. Zwar lassen sich die 58 Prozent der Stimmen für die Verfasungsreform nicht einfach als Stimmen für die Regierungspartei AKP verstehen, denn viele Kurden boykottierten das Referendum, und zwei kleinere Parteien unterstützten es ebenfalls, doch alles in allem fielen die Wahlergebnisse für die Regierungspartei positiv aus ist.
Hinzu kommt alles, was eine Partei für einen Wahlsieg so braucht, eine florierende Wirtschaft und die verlässliche Unterstützung der staatlichen und islamischen Medien. Einfluss auf die öffentliche Meinung nimmt die AKP auch durch die von Erdogans Schwiegersohn mit Unterstützung zweier staatlicher Banken erworbene Tageszeitung Sabah sowie den TV-Sender ATV, der zur Sabah-Gruppe gehört. Erdogan ist zudem ein erfahrener Wahlkämpfer und verfügt über einen Parteiapparat, der geschlossen hinter ihm steht.

Das Ergebnis des Referendums verlieh der regierenden AKP nicht nur Selbstsicherheit, es legte auch eine offenbar sichere Siegesstrategie für die nächsten Wahlen nahe. In den Hochburgen der ultranationalistischen MHP hat das Referendum besonders viel Zustimmung erfahren, obwohl der Anführer der MHP, Devlet Bahceli, entschieden für ein Nein, also für die Ablehnung der Verfassungsreform, plädiert hatte. Dass der MHP die Stammwähler schon beim Referendum davon­liefen, haben die Parteifunktionäre der AKP als Signal gedeutet, dass dies vielleicht auch bei der Parlamentswahl der Fall sein könnte. Denn der Kern der Wählerschaft beider Parteien ist sich sehr ähnlich: kleinbürgerlich oder ländlich, religiös, im Schnitt nicht sehr gebildet und ziemlich autoritätshörig. Das Wählerreservoir der MHP ist daher für Erdogan besonders leicht zugänglich. Auf diese Weise kann die AKP nicht nur eine erhebliche Zahl von neuen Wählerinnen und Wählern gewinnen, sie kann außerdem die MHP unter einen Stimmenanteil von zehn Prozent drücken. Damit wäre die MHP nicht mehr im Parlament vertreten. Dies würde der AKP eine Mehrheit garantieren, und sogar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament wäre möglich.
Daher hat Erdogan in seinem Programm für den Wahlkampf alles vermieden, was die Wähler der MHP abstoßen könnte. Zwei politische Projekte von großer Bedeutung, an denen Erdogan ohnehin lustlos gearbeitet hatte, wurden von der Regierung aufgegeben. Vor der Wahl gab es keine auch noch so schwammigen Versprechen an die religiöse Minderheit der Alewiten. Die Kurden hingegen konnten aus dem Mund des Ministerpräsidenten erfahren, dass das »kurdische Problem« gar nicht mehr existiere. »Bei uns gibt es keinen türkischen Nationalismus, keinen kurdischen Nationalismus und keinen Nationalismus der Lasen«, verkündete Erdogan.

Der Ministerpräsident schweigt zu den demokratischen Reformen, und das nicht nur, weil er die sehr nationalistischen und religiös-konservativen Wählerinnen und Wähler der MHP anlocken will. Er schweigt auch grundsätzlich zu seinem größten Reformvorhaben, einer neuen Verfassung, die die vom Militär diktierte und heute von niemandem mehr verteidigte alte Verfassung ersetzen soll. Erdogan will die neue Verfassung aus der stärkeren Position einer neu gewählten Regierung vorlegen. Daher hat er sich entschlossen, den Wahlkampf auf eine Strategie des »weiter so in eine strahlende Zukunft« zu bauen. Um diese Vision zu propagieren, bezieht er sich ständig auf das Jahr 2023, den 100. Geburtstag der Republik.
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima versprach er, mehr Atomkraftwerke, nämlich sechs statt der geplanten zwei, mit jeweils mehreren Reaktoren zu bauen. Weiter versprach er ein Flugzeug in heimischer Produktion, mehr Subventionen für die Rüstungsindustrie und den Ausbau von Istanbul zu einer »Supermetropole«. In den nächsten zwölf Jahren soll Istanbul 17 statt derzeit 13 Millionen Einwohner haben, und drei statt zwei internationale Flughäfen. Die Türkei soll unter den größten Wirtschaftsmächten vom 17. Platz unter die ersten 10 aufrücken.
Es ist eine Mischung aus ökonomischen Versprechen und dem Appell an den Sinn für das nationale Prestige. Dies mag bei den Wählerinnen und Wählern der MHP nicht schlecht ankommen und könnte sicher auch eine breitere Wirkung haben. Es handelt sich dabei jedoch nicht um Themen, die die Leute wirklich tief bewegen.
In Erdogans Konzept passte nun auch der Ausschluss einiger kurdischer Kandidatinnen und Kandidaten von der Wahl, der Anfang vergangener Woche vom Hohen Wahlrat beschlossen worden war. Nach heftigen Protesten, nicht nur unter den Kurden, sondern auch von Politikerinnen und Politikern vieler Parteien, revidierte die Wahlkommission jedoch ihr Urteil und gestattete sechs der sieben zuvor gesperrten Kandidaten einige Tage später »nach der Prüfung zusätzlicher Dokumente der Gerichte« wieder die Teilnahme an der Wahl.
In der südanatolischen Stadt Bismil wurde während der Ausschreitungen am Mittwoch vergangener Woche ein Demonstrant getötet. Rund 30 000 Menschen waren bei der Beerdigung anwesend. Nach der Beisetzung kam es wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei.
Durch den Ausschluss hätte die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sieben Parlamentssitze weniger bekommen, von denen vermutlich sechs an die AKP gegangen wären. Möglich wäre auch gewesen, dass eine frustrierte BDP zum Wahlboykott aufgerufen hätte. Auch davon hätte vor allem die AKP profitiert.
Die Entscheidung der Wahlkommission führte den Wählerinnen und Wählern noch einmal vor Augen, dass einige von der BDP unterstützte Kandidaten Vorstrafen wegen ihrer Nähe zur PKK haben. Die Unruhen im kurdischen Südosten waren nach der Entscheidung zu erwarten gewesen, und sie gaben Erdogan die Chance, die BDP scharf zu kritisieren, was wiederum bei den Wählerinnen und Wählern der MHP gut angekommen sein dürfte.
Vertreter der kurdischen Parteien hatten der AKP vorgeworfen, sie stecke hinter dem Versuch, unliebsame Abgeordnete von der Wahl auszuschließen. Die Wahlkommission besteht allerdings aus Richtern des türkischen Berufungsgerichts und des obersten Verwaltungsgerichts, die der islamisch geprägten AKP eigentlich kritisch gegenüberstehen. Die Regierung hat keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Hohen Wahlrats. Dieser hat zwar in letzter Zeit einige Entscheidungen getroffen, die für die AKP recht günstig waren, trotzdem bleibt die Einflussnahme der Regierung nur eine Vermutung.

Interessant war aber der politische Umgang mit der Affäre. Erdogan hüllte sich in Schweigen, seine Partei verteidigte die Ablehnung, und ein der Regierung nahe stehender Think Tank veröffentlichte rasch eine Analyse, die zu dem Schluss kam, die Kurden hätten absichtlich Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt, deren Ablehnung zu erwarten war. Hingegen wollte der Anführer der kemalistischen Oppositionspartei CHP das Parlament zusammenrufen, um notfalls die Gesetze zu ändern. Dabei erinnerte er an einen berühmten Präzedenzfall. Im Jahr 2003 hatte die CHP die AKP unterstützt, um ein Veto des Hohen Wahlrates gegen Erdogan zu beseitigen. Damit geriet nun die AKP in eine peinliche Situation und konnte froh sein, dass der Hohe Wahlrat seine Entscheidung selbst wieder zurücknahm.
Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der CHP, ist das größte Problem der AKP bei diesen Wahlen. Er hat eine Art Relaunch der einst von Atatürk gegründeten, elitären und in einer weltfremden Ideologie befangenen Republikanischen Volkspartei versucht. Während Erdogan seine Wahlliste zum großen Teil mit alten Weggefährten, inklusive seines ehemaligen Chauffeurs, füllte, hat Kilicdaroglu vor allem unbekannte Kandidaten und viele Frauen auf sichere Plätze gesetzt, ein Novum in der türkischen Politik.
Schließlich stellte Kilicdaroglu das Wahlprogramm der CHP in einer mit viel Fleiß ausgearbeitete Rede vor, in der nichts vergessen wurde. Kilicdaroglu will zunächst eine ganze Menge abschaffen: die Zehn-Prozent-Hürde, die Sonder­gerichte, das Recht des Militärs, sich in politische Angelegenheiten einzumischen. Er will eine Familienversicherung einführen und eine Volksabstimmung über die Atomkraftwerke durchführen lassen. Auch die Kurden und die Alewiten vergaß er nicht. Das Problem mit seiner im Fern­sehen und Rundfunk übertragenen Rede war, dass kaum jemand sie hören konnte. Denn er hielt sie ausgerechnet an einem Freitagmittag, genau zu dem Zeitpunkt, da die meisten Leute dem Imam in der Moschee lauschen. Nicht nur an solchen groben Fehlern erkennt man die Schwäche der Opposition. Auch an anderen Stellen wird deutlich, dass die CHP keine großen Chancen hat. In den Stadtvierteln sind bereits überall Wahlkampfteams der AKP aktiv, während von der Opposition sehr wenig zu sehen und zu hören ist.
Erdogan wird die Wahl wohl wieder gewinnen, doch die eigentliche Auseinandersetzung wird vemutlich kommen, wenn über eine neue Verfassung debattiert wird. Das Land ist gespalten. Nicht nur die Kurden sind unruhig, es gärt auch bei der akademischen Jugend. Von der Prüfung bis zur Vergabe von Jobs fühlen sich viele Studentinnen und Studenten von islamischen Gemeinschaften übervorteilt. Insbesondere die Skandale um eventuell manipulierte Prüfungen reißen nicht ab.