6,5 für den Standort

Die hohen Lohnforderungen der IG Metall zielen weniger auf das Wohl der Lohnabhängigen als auf die nationale Einigkeit. von felix klopotek

Der aktuelle Kurs der höchstoffiziellen Klassenkämpfe in Deutschland liegt bei 6,5 Prozent – so viel mehr Lohn fordert die IG Metall für die bevorstehende Tarifrunde. Zuletzt forderte sie das 2002 und setzte damals nach harten Auseinandersetzungen vier Prozent durch.

6,5 Prozent – das ist nicht einfach eine nüchterne Zahl, die bloß die Richtlinie für einen weiteren institutionalisierten Klassenkampf vorgibt, es ist eine Zahl, an die sich gesamtgesellschaftliche Erwartungen knüpfen. Für die IG Metall bedeutet sie eine Wende – raus aus der Defensive, wieder Stärke beweisen. Für die anderen Gewerkschaften (Bau, Einzelhandel, Groß- und Außenhandel, öffentlicher Dienst), die sich dieses Jahr in Tarifrunden begeben werden, ist die Zahl ein Fanal – an dem, was die IG Metall vorgibt, wollen sie sich orientieren. Die betroffenen Lohnabhängigen glauben, zunächst einmal aufatmen zu können – mehr Geld, mehr Konsum. Für die Politiker sind die 6,5 Prozent ein Symbol – mit Deutschland geht es aufwärts, die Reformen der letzten Jahre waren wirksam, jetzt darf sich die Bevölkerung mal etwas gönnen.

Tatsache ist, dass Spitzenpolitiker von Union und SPD Verständnis für die, gemessen an der Lohnentwicklung der vergangenen fünf Jahre, hohe Forderung zeigen und den Unternehmen ins Gewissen reden, ihr zu entsprechen. Vom Kapital kommt zurzeit kaum Widerstand, auch eine gewerkschaftsfeindliche Hetzkampagne in den Medien ist bislang nicht zu erwarten. Das Gegenteil ist der Fall. Derzeit stehen die Manager als »Absahner« und Globalisierungsgewinner in der Kritik.

Eine verhältnismäßig hohe Lohnforderung und alle applaudieren? Das geht nur, weil es bei den 6,5 Prozent um das Wohl Deutschlands geht, um den Zusammenhalt einer Gesellschaft, die zunehmend auseinanderdriftet. Die nächste Tarifrunde ist im besonderen Maß ein nationales Anliegen. Um die Durchsetzung der Interessen der Lohnabhängigen geht es dabei nicht, sondern um ihre abermalige Anpassung an das System der nationalen Zumutungen.

Kurt Beck hat seine SPD kürzlich zur Partei der »Leistungsträger« erklärt. Damit meint er die Leute, die in gewerkschaftlich betreuten Branchen etwas für den Standort tun. Die dürfen nicht länger unter den Reformen leiden und müssen in ihrer Leistungsbereitschaft bestätigt werden, etwa durch »gute« Löhne. Die anderen können sich ja hocharbeiten, oder sie sind eben selber schuld.

Für die meisten Lohnabhängigen wird die Tarifrunde der IG Metall samt des vermutlich höchsten Abschlusses seit Jahren und seiner vermeintlichen Signalwirkung also eher ein hohles Spektakel sein.

Gehen wir mal davon aus, dass die 6,5 Prozent tatsächlich erzielt werden. Was bleibt davon übrig? Der Tarif­abschluss wird mit zahlreichen Ausnahmeregeln und Sonderklauseln gespickt sein, schließ­lich gibt es zahlreiche Firmen, die sich beim besten Willen eine so kräftige Lohnsteigerung nicht leisten wollen. Des weiteren mag ein hoher Abschluss der IG-Metall Signalwirkung für andere Branchen haben, letztlich entscheidet dort aber die spezifische wirtschaftliche Situation. Doch die ist im Handel oder auf dem Bau weitaus schwächer als in der stark exportorientierten Metall- und Elektronikindustrie.

Dazu kommt, dass im Westen nur 59 Prozent aller Lohnabhängigen für einen Tariflohn arbeiten und im Osten noch weit weniger, nämlich 42 Prozent. Nicht zuletzt wird auch durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer in diesem Jahr die Inflationsrate steigen. Während die Volkswirtschaftler nur noch darüber streiten, ob sie um 1,7 oder 2,2 Prozent steigt, ist jetzt schon sicher, dass sich die Löhne im gesellschaftlichen Durchschnitt gerade mal um zwei Prozent erhöhen werden. Last but not least erfasst kein Tarifvertrag der Welt die innere Verdichtung der Arbeit, die unendlichen Prozesse der Re- und Neo-Taylorisierung. Das, was reale Subsumtion ist, wird von den Gewerkschaften bei den Verhandlungen um die Tarifverträge unter dem höchst schwammigen Begriff der »Produktivitätssteigerung« in die Waagschale geworfen. Eine solche Steigerung wird immer ex post festgestellt, und der Tarifvertrag orientiet sich dementsprechend an der vergangenen Verdichtung, also an einem bereits überholten Zustand.

Trendwende? Der große Schluck aus der Pulle jetzt auch mal für die Proleten? Weit gefehlt. Was den Lohnabhängigen am Ende dieses Jahres bleibt, ist die in Tarifverträgen und Focus-Titelgeschichten (»Arbeit­nehmer fordern ihren Anteil am Aufschwung«) niedergelegte Versicherung, dass auch die Arbeiter einen »wertvollen Beitrag« zum »Standort Deutschland« leisten, der sich in Tarifverhandlungen nicht nur als lästiges, sondern durchaus honorierungswürdiges Interesse artikulieren darf. Unterm Strich bleibt mal wieder Nationalismus, und von Nationalismus allein wird der Mensch nicht satt. Alles Betrug? Nicht ganz.

Die Höhe der Lohnforderung verweist auf eine tatsächliche, wenn auch eine höchst selektive Stärke. Die Zeit fasst treffend zusammen, dass sich »die neue Stärke der Gewerkschaften auf einige (Export-) Branchen und gefragte Berufsgruppen beschränkt. Und der Druck zu differenzieren wächst weiter. Zwischen Krankenhausärzten und anderen Angestellten der Länder etwa. Zwischen schwäbischen Weltmarktführern und Exkombinaten in Sachsen-Anhalt an der Schwelle zum Gewinn.«

Die kommende Tarifrunde ist also nicht nur ein objektiv nationalistisches Spektakel. Sie festigt vor allem in der Arbeiterklasse die zahlreichen Spaltungen, die durch die Reformpolitik der rot-grünen Regierung vertieft wurden. Bezeichnend für den Zustand unserer Klassen­gesellschaft ist es, dass für einige Gruppen von Arbeitern nach den Tarifverhandlungen doch einiges herausspringen wird.

Die in den vergangenen Jahren arg gebeutelten Gewerkschaften behalten ihre Stärke und ihre Tarifmacht in den Zentren der Industrie und in exportorientierten Branchen mit Betrieben, die über eine große Stammbelegschaft verfügen. Hier darf die Gewerkschaft durch Selbstbewusstsein nerven, erledigt aber gleichzeitig die sonst höchst anstrengenden Aufpasserjobs. Ein wilder Streik irgendwo in der Metallbranche? Keine Sorge, da wird die IG Metall schon dazwischengehen. Wo die Gewerkschaften stark sind, werden sie auch in Zukunft den Arbeitern das Streiken abgewöhnen wollen. Zum Dank gibt es regelmäßige Lohnanpassungen.

Doch was geschieht dort, wo die Gewerkschaften schwach sind? Im so genannten Dienst­leistungssektor, bei den Prekären, den Minijobbern, Leiharbeitern und Quasiselbständigen? Von denen geht, nach dem Urteil der Politiker samt ihrer soziologischen Helfershelfer, keine Gefahr aus. Entweder schuften sich diese Leute lieber tot, als dass sie krankfeiern oder streiken, weil sie hoffen, nur so aus dem Elend herauszukommen. Oder es handelt sich bei ihnen um Angehörige des »abgehängten Prekariats« – politisch passiv, gesellschaftlich frustriert, froh, sich mit einem Minijob noch etwas über Wasser halten zu können.

Zwischen dem Entweder und dem Oder rührt sich aber auch Widerstand. Harte Streiks, wie der im vergangenen Jahr beim Catering-Unternehmen Gate Gourmet in Düsseldorf, sind zukunftsweisend.