Die Heimat lieben oder verlassen

In der Türkei häufen sich die »Verunglimpfungsklagen«. Dabei setzt die EU die Regierung unter Druck, die entsprechenden Paragraphen abzuschaffen. von sabine küper-büsch, istanbul

Der zierliche Mann mit dem dünnen Bärtchen, das typisch ist für türkische Nationalisten, deutet stolz auf die Fahne, die in seinem Büro direkt hinter dem wuchtigen Schreibtisch an der Wand hängt. Sie ist blau im Stil der EU-Fahne, in der Mitte prangen jedoch keine Sterne, sondern dort ist ein Hakenkreuz abgebildet. »Die EU ist mit ihren ständigen Forderungen für uns eine faschistische Vereinigung«, verkündet Anwalt Kemal Kerincsiz strahlend. »In unserem Land gibt es unverrückbare Werte, für die unsere Vereinigung eintritt.« Gemeint ist die ultranationalistische Anwaltsvereinigung »Büyük Hukukcular Birligi« (Die große Anwaltsvereinigung). Sie ist verantwortlich für die Klagen gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk, den Journalisten Hrant Dink und die Schriftstellerin Elif Safak. In allen drei Fällen sahen die Anwälte das »Türkentum« beleidigt.

Das türkische Strafrecht beinhaltet zahlreiche Paragraphen, derer sich die Staatsanwälte und die Nationalisten als Nebenkläger in Strafrechtsprozessen bedienen können. Die Anklagen klingen immer gleich absurd: Verunglimpfung des »Türkentums« oder des »Andenkens an den Staatsgründer Atatürk«, des »Militärs«, wahlweise auch der »staatlichen Führung und ihrer Beamten« oder der »Werte des Volkes«. Momentan werden 96 Schriftsteller und Journalisten aufgrund dieser Anschuldigungen strafrechtlich verfolgt. Ihnen drohen Gefängnis und hohe Geldstrafen. Der Ausgang der Verfahren unterliegt chaotischer Willkür.

Nachdem der Prozess gegen den renommierten Schriftsteller Orhan Pamuk wegen seiner Äußerungen über den Tod von einer Million Armenier und 30 000 Kurden weltweite Aufmerksamkeit erregt hatte, war das Verfahren gegen ihn wegen einer verschleppten Stellungnahme des Justizministeriums im Januar eingestellt worden. Auch die Verunglimpfungsklage gegen Elif Safak wurde bereits am ersten Prozesstag, am 21. September, fallen gelassen. Einen Tag später erhob die Staatsanwaltschaft erneut Anklage, diesmal gegen Hrant Dink. In einem Interview mit der Agentur Reuters hatte der Herausgeber der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos im Juli die Frage, ob es seiner Meinung nach im Osmanischen Reich einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe, bejaht. Damit ist nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der Tatbestand der »Beleidigung des Türkentums« erfüllt. Im Falle einer Verurteilung muss Dink auch die im Oktober vorigen Jahres verhängte Strafe von sechs Monaten auf Bewährung antreten.

Kemal Kerincsiz von der »großen Anwaltsvereinigung« findet das ganz famos. Er klatscht vor Freude in die Hände bei der Erinnerung an einen alten Ausspruch Dinks, er werde die Türkei verlassen, sollte er verurteilt werden. »Nun hat er einen weiteren guten Grund, die Türkei endlich zu verlassen«, jubelt er in Anlehnung an den Wahlspruch der Ultranationalisten: »Liebe (die Heimat) oder verlasse sie.«

Tatsächlich wurde in der Türkei noch nie so viel und kontrovers über die Inhalte der »Ver­un­glimp­fungs­paragraphen« diskutiert wie derzeit. Selbst in der Regierung herrscht Uneinigkeit. Justizminister Cemil Cicek maulte unlängst, man könne doch Gesetze nicht wechseln wie Krawatten. Außen­minister Abdullah Gül würde nichts lieber tun, als den umstrittenen Paragraphen 301, der sich auf die »Beleidigung des Türkentums« bezieht, zu ändern, um den Druck der EU zu verringern. Staatspräsident Ahmet Sezer und die Oberbefehlshaber der Streitkräfte beeilten sich Ende September, angesichts des Anfang November erscheinenden Fortschrittsberichts der EU, zu be­tonen, dass ein Beitritt zwar das Ziel der Türkei sei, die anti-separatistische und laizistische Linie jedoch das Fundament des Landes. Damit markieren sie die Grenzen des Systems auf althergebrachte Weise: Der einheitliche Staat soll weiterhin vor Kritik und Kontroverse geschützt werden. Diese Mentalität verstaubt aber immer mehr, während der gesellschaftliche Diskurs längst auf anderen Themenfeldern stattfindet und die juristische Kuriositätenkollektion anwächst.

Der Journalistin Ipek Calislar etwa drohen viereinhalb Jahre Haft wegen einer Passage ihrer Biographie über die Ehefrau des Staatsgründers Atatürk, Latife. Darin schildert sie, wie Latife in der Gründerphase der Republik ihren Mann vor der Ermordung durch Putschisten gerettet habe. Sie soll ihn mit dem eigenen Ganz­körperschlei­er bekleidet aus dem Haus ge­schickt haben, während sie selbst in Atatürk-Aufmachung auf einer Apfelsinenkiste stehend die Angreifer täuschte. Obwohl Calis­lar zwei Quellen für diese Anekdote anführt, wurde ein Verfahren wegen »Beleidigung Mustafa Kemal Atatürks und der Nation« eröffnet. Auslöser war die Beschwerde eines besorgten Bürgers namens Hüseyin Tugrul Pekin, der an die Staatsanwaltschaft schrieb: »Für jeden Mann, und vor allem für den siegreichen General Mustafa Kemal, dessen Mut anzuzweifeln sich niemand trauen sollte, bedeutet es die größte Beleidigung, ihm so ein Verhalten zu unterstellen.«

Hart wird zudem gegen Kritiker von Militär und Sicherheitsapparat und Berichterstatter zur so genannten Kurdenfrage vorgegangen. Einem Reporter der Tageszeitung Hürriyet, Sebati Karakurt, drohen, da ihm PKK-Propaganda vorgeworfen wird, fünf Jahre Haft, weil er eine Reportage über ein Camp der PKK in den Kandilli-Bergen des Nordirak veröffentlichte.

Ein Problem ist die Unberechenbarkeit, mit der immer neue Einschränkungen auftauchen. So bestätigte der Programmdirektor des staatlichen Fern­sehens TRT, Muharrem Sevil, im Juni der Tageszeitung Hürriyet, dass die Walt-Disney-Zeichentrickserie »Winnie the Pooh« wegen inhaltlicher Unstimmigkeiten mit den Werten der türkischen Kultur abgesetzt wurde. Beanstandet wurde, dass in dem Film der beste Freund des Bären Pu das Ferkel Piglet ist. Das Schwein gilt im Volksislam als unreines Tier.

Obwohl Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 1999 selbst wegen künstlerischer Betätigung – er hatte das fal­sche Gedicht rezitiert – vier Monate im Gefängnis saß, reagiert er gereizt auf die kreativen Darstellungen seiner Person als Tier. Gegen den Karikaturisten Musa Kart strengte er Anfang des Jahres wegen einer harmlosen Darstellung seiner Person als Katze eine Beleidigungsklage mit Entschädigungsforderungen an. Die Satire­zeitschrift Penguen solidarisierte sich mit Kart und präsentierte auf der Titelseite »das Reich der Tayyips«, eine Zoolandschaft mit Tieren, die alle Erdogan ähnelten. Der Ministerpräsident verlor gegen Kart, die Klage gegen Penguen wurde abgewiesen. Das hinderte Erdogan nicht daran, eine weitere Klage gegen den Zeichner Mehmet Cagcag zu erheben. Er hatte auf der Titelseite der Satirezeitung Leman Erdogan als Zecke am Hals des türkischen Bürgers dargestellt. Anfang November beginnt nun das Verfahren, in dem es um 12 000 Euro Entschädigungszahlungen gehen soll.

Kemal Kerincsiz von der »großen Anwaltsvereinigung« grinst. Ihm zufolge ist die türkische Regierung eine Versammlung von Wasch­lappen, und die impertinenten Abbildungen des Regierungschefs, meint Kerincsiz, seien nur eine Folge von dessen unzureichendem Charisma.