Der Konkurrent aus der Zelle

Die Machtkampf um die Nachfolge Arafats wird schärfer. Auch in Israel sind Neuwahlen möglich. von andré anchuelo

Es sah alles so gut aus für Mahmoud Abbas. Nachdem er vom verstorbenen Yassir Arafat zunächst den Vorsitz der palästinensischen Dachorganisation PLO übernommen hatte, schien auch seine Wahl zum neuen Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bei der für den 9. Januar 2005 angesetzten Abstimmung immer mehr zu einer reinen Formsache zu werden. Zwar gab es verschiedene Gegenkandidaten, doch hatten sie allesamt nur geringe Erfolgsaussichten. Abbas hingegen war von der Fatah, der größten PLO-Organisation, offiziell nominiert worden. Und auch die mächtigen al-Aqsa-Märtyrerbrigaden der Fatah unterstützten den 69jährigen.

Diese Tatsache hätte auch das unter vielen Palästinensern vorherrschende negative Image Abbas’ als Repräsentant der korrupten Claqueure Arafats und als Erfüllungsgehilfe israelischer und US-amerikanischer Interessen ausgleichen können. Zumal die Regierungen in Washington und Jerusalem sich mit Lob für Abbas zurückhielten, um diesem Image keine neue Nahrung zu verschaffen. Israel hatte zudem angekündigt, durch den Abbau von Checkpoints und andere Maßnahmen geordnete Wahlen in den Palästinensergebieten zu ermöglichen. Und obwohl der Verbleib eines Großteils des PA-und PLO-Vermögens weiterhin ungeklärt ist (Jungle World, 47/04), versprachen westliche Staaten und Israel neue Zahlungen an die PA.

Doch dann zerstörte am Donnerstag der vergangenen Woche eine überraschende Nachricht das schöne Bild. Marwan Barghouti, in Israel inhaftierter Generalsekretär der Westbanksektion der Fatah, reichte kurz vor Ende der Anmeldefrist ebenfalls seine Kandidatur für den PA-Vorsitz ein. Der 45jährige Vertreter der militanten Basis der Fatah könnte für Abbas ein gefährlicher Konkurrent werden. Umfragen zufolge war er lange Zeit der beliebteste palästinensische Politiker nach Arafat. Er gilt als Gründer und Kopf der al-Aqsa-Brigaden, die mit ihren blutigen Anschlägen auf israelische Zivilisten zeitweise selbst den Terror von Hamas und Jihad in den Schatten stellten. Dabei pflegt er auch zu den Islamisten gute Beziehungen.

Doch der »gewöhnliche Typ von der palästinensischen Straße«, als den sich Barghouti einmal selbst bezeichnete, hat zwei Probleme. Zum einen befindet er sich derzeit nicht auf der Straße, sondern in einem israelischen Gefängnis. Dort sitzt er wegen Beteiligung an der Ermordung von fünf Israelis eine Strafe von fünfmal lebenslänglich ab. Die israelische Regierung hat klar gestellt, dass eine Freilassung auf absehbare Zeit nicht in Frage kommt. Sollte Barghouti als PA-Vorsitzender gewählt werden, müsse er seine Amtsgeschäfte eben mit den Beschränkungen führen, die eine Einzelzelle mit sich bringt, kommentierte Israels Ministerpräsident Ariel Sharon lakonisch.

Barghoutis zweites Problem ist, dass er viele seiner eigenen Anhänger mit dem Hin und Her um seine Kandidatur verärgert haben dürfte. Hatte er doch erst wenige Tage zuvor im Namen der Einheit der Fatah den Verzicht auf eine Kandidatur erklärt, woraufhin deren zentrale Gremien sowie die Führer der al-Aqsa-Brigaden und die Vertreter der palästinensischen Gefangenen in Israel ihre Unterstützung für Mahmoud Abbas verkündeten. Barghouti habe sich »selbst aus der Bewegung entfernt, und wir werden ihn nicht unterstützen«, sagte Abu Hassan Hajawi, der Sprecher der palästinensischen Gefangenen, der israelischen Zeitung Ma’ariv.

Tatsächlich sind Barghoutis Wahlaussichten eher zweifelhaft. Einer Umfrage der Universität von Nablus zufolge würde er lediglich auf knapp zehn Prozent der Stimmen kommen, während Abbas mit über 24 Prozent rechnen kann. Die meisten Beobachter vermuten denn auch, dass es Barghouti vor allem darum gehe, durch seine Kandidatur den internationalen Druck auf Israel zu erhöhen, ihn freizulassen.

Auch interne Machtkämpfe der Fatah dürften eine wichtige Rolle spielen. Barghouti wie auch andere Vertreter der jüngeren Generation streben einen Machtwechsel in den Führungsgremien der Organisation an. Im August kommenden Jahres soll über deren Zusammensetzung neu abgestimmt werden. Die letzten allgemeinen Wahlen fanden vor sechzehn Jahren statt, seitdem wurde der Aufstieg der »jungen Garde« durch die Führungsclique um Arafat blockiert. Ähnliches gilt für den zuletzt 1996 gewählten Legislativrat, das »Parlament« der PA. So könnte Barghouti versuchen, Zugeständnisse von der »alten Garde« zu erreichen, um dann seine Kandidatur wieder zurückzuziehen.

Möglicherweise hat Barghouti jetzt aber durch diesen Zickzackkurs viel von seinem Renommee verspielt. Die Islamisten haben bereits angekündigt, ihre Anhänger zu einem Boykott der Abstimmung aufzurufen. Zugleich deuten Sprecher der Hamas Kompromissbereitschaft an. Sheikh Hassan Yussef erklärte, man werde einen palästinensischen Staat und einen »langfristigen Waffenstillstand« akzeptieren. Ähnlichen Äußerungen folgten in der Vergangenheit Terroranschläge, möglicherweise will sich die Hamas aber auch auf den palästinensischen Machtkampf konzentrieren.

Gemäßigte Palästinenser befürchten, dass Barghouti es ernst meinen könnte und durch ein Bündnis mit den Islamisten seine Wahlchancen zu steigern hofft. Die Folge könnte eine Eskalation im bisher relativ ruhigen Übergangsprozess sein. Alles sei offen, meint der palästinensische Politologe Khalil Shikaki: »Entweder wir können uns in ein Blutbad stürzen lassen, oder aber wir können die schönste Demokratie im Nahen Osten erschaffen.«

Angesichts dieser unklaren Aussichten hält Sharon weiter an seinen beiden strategischen Hauptprojekten fest, dem Bau der Sperranlagen zum Westjordanland und dem Gaza-Rückzugsplan. Dafür hat der Likud-Vorsitzende schon viel riskiert, und deswegen ist in der vergangenen Woche auch seine Regierungskoalition geplatzt. Oberflächlich ging es dabei um den Betrag von 50 Millionen Euro für Projekte der ultraorthodoxen Partei Vereinigtes Thora-Judentum. Sharons Koalitionspartner, die säkulare Partei Shinui, wollte die Zahlung nicht mittragen und lehnte deswegen den Haushaltsplan in der ersten Lesung ab. Sharon warf die Minister von Shinui daraufhin aus der Regierung.

Doch letztlich wollte der 76jährige Regierungschef einen neuen Koalitionspartner einkaufen, der sich dem Gaza-Abkoppelungsplan nicht verweigern würde. Schließlich war die Koalition im Laufe des Jahres schon von vier auf zwei Parteien geschrumpft, weil zwei rechtsgerichtete Fraktionen Sharons Vorhaben im Gazastreifen ablehnten. Und auch in seiner eigenen Likud-Partei gibt es erhebliche Widerstände gegen einen Rückzug aus Gaza ohne palästinensische Gegenleistungen.

Nun muss sich Sharon wieder einmal um die zerstrittene Arbeitspartei als Koalitionspartnerin bemühen. Deren 81jähriger Chef Shimon Peres würde lieber heute als morgen als Sharons Vize in dessen Regierung eintreten, um den Abkoppelungsplan voranzubringen. Doch Peres hat ebenfalls große Probleme mit seinen eigenen Parteifreunden. Deswegen sind baldige Neuwahlen auch in Israel nicht auszuschließen.