Sounds und Klangfarben

Elektronische Musik im Geiste des Free Jazz: Das Kammerflimmer Kollektief aus Karlsruhe ist weniger mysteriös als angenehm utopisch. von felix klopotek

Vor vier bzw. drei Jahren erschienen die ersten beiden CDs des Karlsruher Kammerflimmer Kollektiefs. Die eine, »Mäander«, war ein Alleingang Thomas Webers, des Mastermind des Kollektiefs. Die Platte war eine kühne Rekonstruktion von Free Jazz unter den Bedingungen von TripHop, entworfen und ausgeführt am heimischen Rechner. Die andere, »Incommunicado«, versuchte sich an der Realisierung dieses Sounds im Bandformat, war sozusagen der Re-Import der computerisierten Musik ins Freejazz-Land. Aber auch wenn Thomas Webers Musik von einem Sextett improvisierend gespielt wurde, drückte sich hier der Charakter des ersten Studioalbums live immer noch aus. Prinzipiell wurde mit beiden Platten klar gestellt, dass sich aus Free Jazz, dieser sperrigen Musik par excellence, wunderschön fließende, angenehm dramatische Elektronik und Postrock formen lassen.

»Cicadidae« ist nun das vierte Album des Kammerflimmer Kollektiefs, und da das dritte, »Hysteria« (2001), bloß in Japan veröffentlicht wurde, muss man fast von einem Comeback sprechen. »Hysteria« war eine Synthese aus Studioarbeit und kollektiv erarbeitetem Rausch. Der von Johannes Fritsch gespielte Kontrabass trifft auf knisternde Elektronik, und die Gruppe einigt sich auf einen ebenso frei pulsierenden wie absolut zwingenden Groove. »Cicadidae« ist wie »Hysteria« eine Kombination aus dem Spiel des Ensembles und der einsamen Frickelarbeit Webers.

Würde man die Entwicklung des Kollektiefs mit der des Jazz parallelisieren, ließe sich sagen: Arbeiteten sich die Karlsruher auf ihren ersten Platten am ekstatischen Free Jazz der mittleren und späten sechziger Jahre ab, geht es nun etwas ruhiger zu. Mit »Cicadidae« befinden sie sich auf Augenhöhe mit dem fast völlig entspannten, ganz auf Sounds und Klangfarben sowie auf reduzierte, modale Improvisationen basierenden Post-Free-Jazz der frühen siebziger Jahre. Zu »Cicadidae« fallen einem vor allem die Synthie-Experimente von Paul Bley, das ausgefreakte Herumdaddeln von Herbie Hancock und die total netten, aber völlig weggetretenen Alben Marion Browns ein.

Meines Erachtens ist diese kurze, nicht mal zehn Jahre währende Phase im Jazz bislang kaum adäquat aufgearbeitet worden. Die entsprechenden Platten von Bley und Brown gelten jedenfalls als Fußnoten ihrer eigenen glorreichen Free-Jazz-Vergangenheit. Das wirklich Interessante an diesem Hippie-Jazz der Siebziger mit seiner oftmals angedeuteten Afrofuturistik ist, dass er den komplexen Post-Bop und den Free Jazz eben nicht überwunden hat und Partikel der ehemaligen Sperrigkeit hier nun ein Eigenleben führen.

Die Musik der frühen Siebziger klingt beim erneuten Hören sehr hybrid, vor allem aber offen und wagemutig. Kiffen führte in dieser Phase der Musikgeschichte zu echt coolen Ergebnissen.

Was das alles mit dem Kammerflimmer Kollektief zu tun hat? Eine Menge. Vordergründig wurde auf »Cicadidae« jede Widerborstigkeit zugunsten eines eher ambientösen Sounddesigns aufgelöst. Jedoch nicht völlig. Es scheint, als gäbe es (wieder) Platz für neue Ideen, und gleichzeitig die Coolness, diesen Platz nicht sofort wieder ausfüllen zu müssen. Für diesen Befund steht vor allem das Stück »Blood«. Es ist die Adaption eines Stückes von Annette Peacock, die in einer besseren Welt den Jazz der Siebziger dominiert hätte. Peacocks elegische Kompositionen sind radikal reduziert und Sprungbretter für Improvisationen. Dabei werden sie von den Improvisationen jedoch nicht verdrängt, sondern prägen den Improvisationsprozess durchgehend.

Das Kammerflimmer Kollektief mag »Blood« nicht so perfektionistisch neu verarbeitet haben, wie es Paul Bley getan hat. Es interpretiert das Stück eher überaffirmativ: besonders elegisch, besonders traurig, besonders verhallt. Als Statement und als strategisches Element auf der Platte kann man die Interpretation jedoch nicht hoch genug einschätzen. Sie bricht ab, bevor sie kitschig wird, und bleibt eine Skizze, die kaum länger als eine Minute dauert. Und diese Minute ist exemplarisch für die Arbeitsweise Webers und seines Ensembles.

Trotzdem muss man sagen, dass »Cicadidae« nicht an »Hysteria« heranreicht. Das Geknister ist nun zu einem Gleißen, zu einer Art auditivem Strahlen mutiert, das schlichtweg etwas zu erhaben klingt. Das kreischende Saxofon (von Dietrich Foth) kommt nun lediglich noch als Zitat vor, auf »Hysteria« war es noch klug eingesetztes Strukturelement, und der früher (zu Recht!) dominante Bass wurde in seiner Funktion ebenfalls zurückgestuft.

Mag sein, dass »Cicadidae« irgendwie mysteriös wirken soll. Aber dieses Fließen und Plätschern, das Geklöppel auf den Becken, das Hauchen der Flöte, die hypnotischen Beats – all das wirkt vor allem, wenn auch im guten Sinne, naiv utopisch.

Kammerflimmer Kollektief: »Cicadidae« (Staubgold/Indigo)