Blair kippt doch nicht

Seit dem Kriegsbeginn konkurriert in Großbritannien eine verbreitete patriotische Stimmung mit dem Friedenswunsch der Antikriegsbewegung.

Am Morgen nach den ersten Angriffen ist die Stimmung in den Straßen der britischen Hauptstadt geprägt vom Unglauben. Hat es wirklich angefangen? Laut Zeitplan des Bündnisses Stop the War und anderer Kriegsgegner waren jetzt direkte Aktionen vorgesehen. Die Streikwelle allerdings blieb bescheiden.

Zwar schickten die großen Gewerkschaften, der Trade Union Congress (TUC), die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst, Unison, sowie die der Lehrer und Universitätsdozenten, Nafta, Solidaritätsadressen, in denen sie den Angriff auf den Irak verurteilten; von der Arbeit wollten sie ihre Mitglieder aber lieber nicht abhalten. Dennoch kam es zu sporadischen Streiks, zumeist in Transportunternehmen und Krankenhäusern.

Dass der Tag der direkten Aktionen trotzdem ein Achtungserfolg wurde, lag an den Schülern und Schülerinnen des Landes. Tausende verließen ihre Klassenräume, obwohl ihnen häufig Disziplinarmaßnahmen angedroht worden waren. In beinahe allen britischen Städten kam es zu Sitzblockaden und Demonstrationen. Gelegentlich eskalierte der Konflikt mit der Polizei, in Birmingham etwa wurden Flaschen geworfen und das Rathaus wurde blockiert. Auch solche Szenen gab es: Schülerinnen schütteten Badeschaum in einen öffentlichen Brunnen und nahmen ein Bad. Und wann gibt es schon Dreizehnjährige in Schuluniformen zu sehen, die Bilder von Ché Guevara hochhalten, oder muslimische Mädchen, die sich mit ihren Kopftüchern auf ganz ungewohnte Weise vermummen?

Im Gegensatz zu den Protesten in den letzten Monaten war die Stimmung am vergangenen Donnerstag gespannt. Lindsey German, Sprecherin des Bündnisses Stop the War, forderte die Demonstranten auf, den Widerstand weiterzuführen. Sie warf Tony Blair Heuchelei vor: »Am Sonntag geht er in die Kirche, und am Montag bombardiert er Zivilisten, Frauen und Kinder im Irak.«

Nun darf auch die Polizei wieder zugreifen, wie sie das gewohnt ist. Zwar schreckt sie davor zurück, Schulkinder zu verhaften, die mit Flaschen werfen. Weil man so etwas aber andererseits nicht auf sich beruhen lassen kann, werden willkürlich ältere Demonstranten festgenommen.

Die Massendemonstrationen in den vergangenen Wochen hatten Illusionen genährt. Viele Teilnehmer meinten nach dem 15. Februar, als weit über eine Million in der Hauptstadt demonstrierte, dass Blair die Proteste nun nicht mehr ignorieren könne. Jetzt aber ist die Entscheidung gefallen; und wer immer noch widerspricht, überschreitet den Rahmen der rationalen Debatte. Die europaorientierte Elite, die in ihrer Verzweiflung über die Außenpolitik Blairs das Risiko eingegangen ist, eine Bewegung auf der Straße zu unterstützen, und die Medien, die die Friedensbewegung bisher äußerst wohlwollend behandelt haben, wollen sie nun möglichst geräuschlos wieder verschwinden lassen. Die Stimmung schlägt um, und in der täglichen Berichterstattung wird der harte Kern der Bewegung – die üblichen Verdächtigen, wie sie nun vorzugsweise genannt werden – mit immer aggressiveren Formulierungen kritisiert. Dennoch protestierten am vergangenen Wochenende über 150 000 Menschen in der Hauptstadt und fast eine halbe Million im ganzen Land. Warum hören sie nicht auf? Warum halten sie sich nicht an das Drehbuch, das vorsieht, dass sich nun die Aufmerksamkeit endlich von der Heimatfront abwendet?

Zu Beginn des Monats wurde eine Katastrophenübung in einer U-Bahnstation durchgeführt, bei der ein Giftgasangriff simuliert wurde. In der vergangenen Woche wurden dann die Briten aufgefordert, Lebensmittelkonserven und Trinkwasser zu horten. Nach Meinung des Innenministeriums steht der irakische Blitz auf London also kurz bevor, und trotzdem will sich das erwünschte Gefühl von Bedrohung nicht einstellen. Der irakischen Armee wird gegen die Invasionsstreitkräfte keine Chance eingeräumt. Es zirkulieren Witze, die einzige Chance der Irakis sei es, dass sie im Gewimmel der Uniformen nicht gefunden werden. Und die britischen Verluste resultieren bisher aus Unfällen und dem friendly fire der amerikanischen Verbündeten.

Mehr als die Paranoia hat die Friedensbewegung den Patriotismus zu fürchten. Besonders brisant ist daher der lang andauernde Streik der Feuerwehrleute. Als sie im Herbst streikten, musste ihr Dienst vom Militär gemacht werden. Weil das den Soldaten in Kriegszeiten nicht zuzumuten ist, wurde ein eigentlich vorgesehener Streik in der vergangenen Woche abgesagt. Der Burgfrieden verlangt erste Opfer.

So groß ist der Rechtfertigungsdruck geworden, dass sich seit Kriegsbeginn kein Parlamentsmitglied äußern kann, ohne zu betonen, dass man natürlich die Truppen unterstütze. Dolchstoßlegenden beginnen zu zirkulieren, und die Konservativen werfen den Pazifisten, die singend und mit Kerzen vor dem Parlament eine Mahnwache halten, »Propaganda für Saddam« vor. Der Premierminister hält eine weitere Predigt und ruft den Soldaten im Wüstensand zu: »Unsere Gebete und Gedanken sind bei euch!« Und die Massenblätter trommeln täglich für den Sieg.

Ein großer Teil der Bevölkerung ist stolz auf die britische Armee, die immer noch für die beste der Welt gehalten wird. Als sich die Debatte im Februar hinzog und schließlich die Regierung Bush genervt andeutete, im Zweifel auf die anglo-amerikanische Waffenbrüderschaft auch verzichten zu können, waren viele Briten in ihrem nationalen Selbstwertgefühl gekränkt. Bekanntlich besteht die einzige Möglichkeit für Großbritannien, die alte Weltgeltung zu behaupten, darin, als kleiner Bruder an der Seite der USA aufzutreten.

Die Rücktritte und Rücktrittsdrohungen in der vergangenen Woche zeigten, wie tief die politische Klasse über der Frage von Krieg oder Frieden gespalten ist. Ein Parlamentsantrag, der vorsah, die Truppen zurückzuziehen, wurde am 18. März abgelehnt. 139 Labour-Abgeordnete stimmten gegen ihre eigene Regierung, die größte »Parlamentsrebellion« seit dem 19. Jahrhundert. Als es dann aber so aussah, als könne der Konflikt zu einer Spaltung der Partei führen, wurde der Widerstand kleinlaut. Den britischen Sozialdemokraten ist klar, dass sie ohne Blair keine Chance haben, an der Macht zu bleiben, und schreckten deshalb vor dem nächsten Schritt, der Rücktrittsforderung, zurück.

Die trotzkistischen Hoffnungen, die Labour Party für die Arbeiterklasse zurückzugewinnen, sind erstmal gestorben, werden aber nach aller Voraussicht wieder aufleben, wie sie das in den letzten Jahrzehnten immer wieder getan haben. Es herrscht zwar keine Einigkeit an der Heimatfront, aber die Umgangsformen werden gewahrt. Für die Kriegsgegner ist das ein schlechtes Zeichen. Von der politischen Klasse hat die britische Friedensbewegung nichts zu erwarten. Wenn es nicht gelingt, die Regierung von der Straße aus unter Druck zu setzen, wird auch dieser Krieg reibungslos geführt werden.