Jihad gegen den American Dream

Mit den Anschlägen vom 11. September verfolgte die al-Qaida eine Strategie der Eskalation. In Pakistan zeigen sich schon erste Erfolge.

Wohl niemals zuvor haben so wenige Menschen eine so gewaltige Wirkung erzielt. Die Anschläge vom 11. September, die den Massenmord als mediales Spektakel inszenierten, waren keine Racheaktion irrationaler Fanatiker. Sie folgten dem strategischen Kalkül sehr rationaler Fanatiker.

Deshalb verweisen nicht nur kriminalistische Erkenntnisse auf Mitglieder der al-Qaida, eines international operierenden Netzwerks der exremsten Gruppen des islamistischen Spektrums. Niemand sonst hat die organisatorischen und finanziellen Ressourcen, die erforderliche Zahl von Selbstmordattentätern für eine Operation dieser Größenordnung und das Motiv: Eine Strategie der Eskalation, die eine massenpsychologische Wirkung erzielen und ganz bewusst einen Krieg mit den USA provozieren will.

Al-Qaida verfügt über beträchtliche Vermögenswerte, die meisten Attentäter kamen aus wohlhabenden oder reichen Familien und hatten eine akademische Ausbildung. Doch anders als die Haupstströmung des Islamismus, die über Sozial- und Bildungseinrichtungen eine Klientel an sich binden will, hat al-Qaida sich nie für derartige Probleme interessiert. Von dem auf mehr als 250 Millionen Dollar geschätzten Vermögen Ussama bin Ladens hat die afghanische Bevölkerung wenig gesehen. Bin Laden, der von al-Qaida gezielt zur Identifikationsfigur aufgebaut wurde, wird in den zur Rekrutierung verbreiteten Videos in ärmlicher Umgebung gezeigt: in einer Hütte mit unverputzten Wänden oder in einer Höhle als Behausung, mit einer einfachen Matratze als Lager. Der freiwillige Verzicht des Multmillionärs auf Luxus soll anderen ein Vorbild sein, sich ebenfalls der Aufgabe zu widmen, die Welt von allem zu reinigen, was al-Qaida für dekadent hält.

Am Kapitalismus störte die Attentäter nicht die soziale Ungleichheit, sondern sein uneingelöstes Versprechen, dass der Mensch sich von Hierarchien und Zwängen emanzipieren kann, sowie die »Amerikanisierung«, die Verbreitung kultureller Codes über die Grenzen von Nationen und Religionen hinweg. Für diesen Hochmut, der sich über vermeintlich göttliche Gesetze hinwegsetzt, und für die Sünde der Dekadenz sollte Amerika symbolisch bestraft werden. Die beiden Türme des World Trade Center, die so weit in den Himmel ragten und in denen Menschen aus mehr als 60 Staaten arbeiteten, waren für sie der moderne Turm von Babel.

Gott lässt Feuer vom Himmel fallen, um die Stadt der Sünder zu strafen. In der islamischen Welt will al-Qaida sich als Racheengel präsentieren. Doch der religiöse Mythos, der hier erweckt werden soll, wird auch in der westlichen Welt verstanden. Von christlichen Fundamentalisten in den USA über Peter Scholl-Latour, der über das Ende der »Spaßgesellschaft« frohlockt, bis zu jenen Linken, die in den Anschlägen eine symbolische Strafe für die Verbrechen der USA sehen, haben zahllose Menschen das ihnen hier präsentierte Bild aufgegriffen.

Dennoch dominiert die Distanzierung vom »Kampf der Zivilisationen«. Die meisten Menschen in der islamischen Welt verurteilten die Anschläge. Auch die Mehrzahl der islamistischen Organisationen hat sich distanziert, häufig allerdings Verschwörungstheorien kolportiert, die hinter dem Terror die leitende Hand des Zionismus sehen wollen. Im Westen wird trotz der gelegentlichen Kreuzzugsrhetorik fast einhellig betont, dass der bevorstehende Krieg kein Krieg gegen den Islam sein dürfe.

Die Inszenierung des Terrors hat aber noch einen zweiten, realpolitischen Teil. Dass die Anschläge die Kriegsmaschine der USA in Richtung Afghanistan in Bewegung setzen würden, war vorhersehbar. Es mag größenwahnsinnig erscheinen, dass eine Organisation, deren Mitgliederzahl von westlichen Geheimdiensten auf 5 000 geschätzt wird, sich mit der mächtigsten Armee der Welt anlegt. Ein solcher Plan entspricht jedoch dem Denken der al-Qaida-Funktionäre, deren Eskalationsstrategie darauf baut, dass andere Kräfte in den kommenden Krieg hineingezogen werden können.

Die Ideologie der al-Qaida basiert auf den Lehren der Jihad-Organisation, die sich in den siebziger Jahren von der Hauptströmung des ägyptischen Islamismus trennte. Die Mehrzahl der Islamisten setzt auf die Mobilisierung der armen Bevölkerungsschichten unter der Führung der Mittelklasse. Gewalt gilt dabei als legitimes Mittel, wird aber politischen Zielen untergeordnet. Die Jihad-Organisation dagegen wollte durch exemplarische Gewalttaten eine Esklation herbeiführen, von der sie zu profitieren glaubte. Abd al-Salam Faraj, ihr erster Ideologe, erklärte den Jihad zur individuellen Pflicht jedes Muslims.

Es gelang der Gruppe, mit Sheikh Omar Abd al-Rahman einen Gelehrten mit islamischer Universitätsausbildung zu gewinnen, der nach orthodoxer Auffassung berechtigt war, religiöse Dekrete (Fatwas) zu erlassen. Bei einem Attentat im September 1981 tötete die Jihad-Organisation den ägyptischen Staatschef Anwar al-Sadat. Der damit verbundene Aufstand aber scheiterte kläglich. Viele Jihad-Mitglieder zogen sich nach Afghanistan zurück, Sheikh Omar schloss sich ihnen nach der Verbüßung einer kurzen Haftstrafe an.

In Afghanistan verbündete er sich mit bin Laden, das al-Qaida-Netzwerk entstand. Dem Kampf gegen die sowjetischen Truppen, die 1979 nach Afghanistan einmarschiert waren, schlossen sich im Laufe der Jahre etwa 30 000 Freiwillige aus diversen islamischen Staaten an. Bin Laden verteilte sie auf die islamistischen Kampfgruppen, Sheikh Omar sorgte für die ideologische Indoktrination. Einen Teil des Geldes und der Waffen, die sie von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan erhielten, sparten sie für spätere Einsätze auf.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen hielten viele der zurückkehrenden Freiwilligen Verbindung zu al-Qaida. Sie schlossen sich überwiegend den extremen Gruppen im islamistischen Spektrum an. Im Vordergrund stand nun der fanatische Wille zur Säuberung der Gesellschaft von allem, was für unislamisch erklärt wurde. Die Morde der Gia (Bewaffnete Islamische Gruppen) an allein stehenden Frauen in Algerien und das von den ägyptischen Islamischen Gruppen verübte Massaker von Luxor im November 1997, dem 58 Touristen zum Opfer fielen, sind beipielhaft für diese Strategie.

Auch die Präsenz der ehemaligen Verbündeten aus dem Afghanistan-Krieg wurde nun als unerträglich empfunden. Ausgangspunkt war der Krieg gegen den Irak. Der König von Saudi-Arabien hatte 1990 den US-Truppen gestattet, Stützpunkte in seinem Land zu errichten. In einer 1996 veröffentlichten Erklärung rief bin Laden zum Jihad auf gegen »Amerikaner, die das Land der beiden heiligen Stätten besetzen«. Der Entweihung musste mit einer Säuberung begegnet werden. Noch 1996 explodierten zwei Bomben vor US-Stützpunkten in Saudi-Arabien, 26 Menschen starben.

Im Februar 1998 verkündete bin Laden: »Amerikaner und ihre Alliierten - Zivilisten oder Militärs - zu töten, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der es tun kann, in jedem Land, in dem es möglich ist.« Aus der individuellen Pflicht zum Jihad war die individuelle Pflicht zum Mord an Zivilisten geworden. Knapp fünf Monate später explodierten fast gleichzeitig zwei Bomben vor US-Botschaften in Kenia und Tansania. 213 Menschen starben, 201 waren »alliierte« Afrikaner.

Dass sich die Anschläge der al-Qaida nie gegen Israel richteten, lag nicht an mangelndem Antisemitismus. Doch al-Qaida wollte sich nicht mit dem »kleinen Satan« abgeben. In der islamistischen Mythologie hat sich die Vorstellung durchgesetzt, allein der Jihad in Afghanistan habe zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt. Was lag da näher, als nun die verbliebene Supermacht ins Visier zu nehmen? »Der russische Soldat ist mutiger und geduldiger als der US-Soldat«, erklärte bin Laden 1996 der arabischen Tageszeitung al-Quds al-Arabi. »Unsere Schlacht mit den Vereinigten Staaten ist leicht, verglichen mit den Schlachten, die wir in Afghanistan geschlagen haben.«

Im Oktober des vergangenen Jahres starben bei einem Bombenanschlag auf den US-Zerstörer »Cole« im jemenitischen Hafen Aden 17 US-Soldaten. Die Selbstmordattentäter hatten ein mit Sprengstoff beladenes Schlauchboot benutzt. »Der Zerstörer repräsentierte den Westen, und das kleine Boot repräsentierte Muhammad«, erläuterte bin Laden. Eine ähnliche Symbolik, mit der sich al-Qaida als eine zu allem entschlossene Gruppe präsentieren will, die den Kampf mit einer Übermacht nicht scheut, sollten auch die Anschläge vom 11. September vermitteln.

Dass bei dem Anschlag wahrscheinlich mehr als 6 000 Zivilsten starben, hat den Effekt allerdings gemindert. Der Mord an Zivilisten ist auch nach offizieller islamistischer Auffassung verwerflich. Orthodoxe islamische Rechtsgelehrte hatten bereits vor dem 11. September Selbstmordanschläge verurteilt. Allerdings handelt es sich bei diesen Geistlichen faktisch um Staatsangestellte, deren Glaubwürdigkeit begrenzt ist. Und trotz ideologischer Differenzen gibt es Gemeinsamkeiten mit der Mehrheit des Islamismus, die nun mobilisiert werden sollen.

Die militärische und ideologische Eskalation, zu der ein längerer Krieg in Afghanistan führen könnte, soll zur Herstellung der Ummah, der islamischen Gemeinschaft beitragen, die sich von westlicher Dekadenz lossagt und die von allen Islamisten erstrebt wird. Der Krieg kann auch die Chancen verbessern, die eine oder andere »unislamische« Regierung zu stürzen. Dieses Ziel teilen viele islamistische Organisationen.

Erste Anzeichen, dass die al-Qaida-Strategie erfolgreich sein könnte, gibt es bereits. Luftwaffengeneral Charles Wald hatte in der saudi-arabischen Prince Sultan Air Base gerade seine Kommandozentrale einrichten wollen, als die Regierung ihre Zusage zurückzog, den USA die Benutzung von Militärbasen im kommenden Krieg zu gestatten. Die Hintergründe sind unklar. Doch bin Laden werden weiterhin gute Verbindungen nach Saudi-Arabien nachgesagt, mit dem kürzlich gefeuerten Geheimdienstchef Prinz Turki al-Feisal war er befreundet.

Zu den gottlosen Regierungen zählt aber, trotz seiner bisherigen Unterstützung für die Taliban, auch das pakistanische Militärregime unter Pervez Musharraf. Die Verbindungen zwischen afghanischen und pakistanischen Islamisten sind eng. Die Taliban gingen aus den Koranschulen der Jamaat Ulama-e Islami (JUI) hervor. Obwohl den Taliban, die sich vor dem 11. September recht erfolgreich um diplomatische Anerkennung bemühten, die aktuelle Entwicklung wohl nicht gelegen kommt, können und wollen sie ihre Verbindung zu al-Qaida nicht lösen. Bin Laden hat in höchste Taliban-Kreise eingeheiratet, seine Auslieferung könnte zu einer Spaltung des Regimes führen.

So wächst im Jihad zusammen, was zusammenwachsen will. Jamaat-e Islami (JI), die älteste und einflussreichste islamistische Organisation Pakistans, hält zwar ideologische Distanz zu bin Laden und den Taliban, doch im Kriegsfall will sie sich dem Kampf anschließen. JI-Emir Qazi Hussain Ahmad verurteilte die Anschläge, erklärte aber, sie seien nur der Vorwand für die zionistische Absicht, den Islam zu vernichten. 35 überwiegend islamistische Organisationen haben sich im Afghanistan Defence Council zusammengeschlossen. Am Freitag demonstrierten in Lahore etwa 20 000 und in Peschawar 5 000 Islamisten, drei Menschen wurden erschossen.

Nicht nur die Islamisten kritisieren die Regierung. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup zufolge lehnen 62 Prozent der Bevölkerung Musharrafs Entscheidung ab, die USA zu unterstützen. Viele Pakistanis wollen nicht in einen Krieg hineingezogen werden, dessen Folgen niemand abschätzen kann. Immerhin ist es Musharraf gelungen, mit den bürgerlichen Oppositionsparteien ein Stillhalteabkommen zu schließen. Auch sie kritisieren zum Teil die Unterstützung der USA, wollen sich aber vorerst nicht an Protesten beteiligen, die allein den Islamisten nützen.

Die Islamisten, die über umfangreiche Waffenlager verfügen, könnten das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Fraglich ist auch die Loyalität der Armee. Unter der Militärdiktatur Zia ul-Haqs wurden in den achtziger Jahren zahlreiche Islamisten in das Offizierskorps aufgenommen, viele sind zu Generälen aufgestiegen, einige gehören zum engsten Kreis um Musharraf. An einer islamistischen Versammlung, die am Dienstang vergangener Woche in einem Vorort von Lahore stattfand, nahm auch Hamid Gul teil, ein ehemaliger Leiter des pakistanischen Geheimdienstes Inter Services Intelligence (ISI). Nur eine Handvoll »verwestlichter Pseudo-Intellektueller« sei auf Seiten Amerikas, erklärte Gul dem Guardian, »die Armee war traditionell immer auf der Seite des Volkes«. Am Freitag trafen sich die Korpskommandanten und mehr als 20 Generäle in Rawalpindi, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen.

Die US-Regierung und das Pentagon sind sich der brisanten Lage in Pakistan bewusst, möglicherweise fürchten sie auch, genau auf dem Weg zu sein, den al-Qaida für sie vorgezeichnet hat. Dass es zum Krieg kommen wird, steht jedoch fest. Unter Berufung auf Militärkreise berichtete die Sunday Times, bereits am Freitag sei es zu einem ersten Schusswechsel zwischen einer Aufklärungstruppe der britischen Eliteeinheit SAS und Taliban gekommen.

Condoleezza Rice, Sicherheitsberaterin der US-Regierung, erklärte am Wochenende, ein Kriegsziel sei die Vertreibung der Taliban. Mit der in der Nordallianz zusammengeschlossenen bewaffneten afghanischen Opposition und dem ehemaligen König Mohammad Zahir Shah, der in Rom im Exil lebt, wird derzeit verhandelt. Ein schlimmeres Regime als das der Taliban ist kaum vorstellbar, doch der Versuch, es durch eine überwiegend aus Islamisten und Warlords zusammengesetzte Truppe und einen abgehalftertern Monarchen zu ersetzen, wird kaum mehr bringen als eine neue Runde des Krieges.

Für die Menschen in Afghanistan blieb das Versprechen auf Emanzipation nicht nur uneingelöst, es wurde nie gegeben. Der Aufstieg der al-Qaida begann mit einer antikommunistischen Allianz islamischer und westlicher Staaten. Gemeinsam war man bemüht, im Nahen und Mittleren Osten jene Kräfte niederzukämpfen, die soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte wenigstens noch propagierten.

Auf die von al-Qaida verkörperte Kultur des Todes und auf antiemanzipatorische Bewegungen wie den Islamismus hat eine kapitalistische Zivilisation, die ihre fortschrittlichen Möglichkeiten erschöpft hat, keine politische Antwort. Das schließt den größten Teil der westlichen Linken ein, die selbst allzu häufig Antikapitalismus mit Antiamerikanismus und Befreiung mit Konsumverzicht verwechselt.

Hinter der von den Islamisten so gehassten »Verwestlichung« steht letztlich das Versprechen von Freiheit und Wohlstand, von dem die kapitalistische Zivilisation selbst sich mehr und mehr verabschiedet. Eine politische Lösung kann nur von Kräften ausgehen, die dieses Versprechen nicht negieren, sondern seine Einlösung fordern.

Eldridge Cleaver, führendes Mitglied der US-amerikanischen Black Panther Party, formulierte 1969 diese schon damals radikale Vision: »Ich glaube, der amerikanische Traum sieht genauso aus, wie es geschrieben steht, ðdass alle Menschen (...) mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, darunter das Recht auf Leben, Freiheit sowie das Streben nach GlückÐ. (...) Wir wollen die bestmöglichen Lebensbedingungen, den bestmöglichen Lebensstandard erzeugen, den Technologie und menschliche Erkenntnis zur Verfügung stellen können. Das ist die Sehnsucht der revolutionären Bewegung, und das ist der Traum.«