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So ähnlich hat man sich das mit der Revolution immer vorgestellt: Hunderte Hunderte von klatschenden und jubelnden Passanten säumen schon den Weg zum Werkstor, während der ahnungslose Redakteur um die Ecke radelt - und plötzlich auf die Menschenmassen stößt. Je näher das große blaue Tor auf der Bergmannstraße am Karfreitag rückte, hinter dem sich die Jungle-World-Fabriketage verbirgt, desto enger drängten sich auch die vermeintlichen Revolutionäre aneinander. Und dann die Erlösung: »Ziel« prangte es in großen Lettern über der Straße, als die Hausnummer 68 endlich erreicht war.

Doch der Jubel galt nicht dem Redakteur, sondern Dutzenden von Berliner Rad-Amateuren, die in der Osterhitze nichts Besseres zu tun hatten als die Steigungen von Kreuzberg 61 zu erklimmen. Völlig entmutigt, blieb dem Jungle-Schreiber nichts anderes übrig, als sich die vier Stockwerke ins Büro hinaufzuschleppen.

Alles nur ein Pop-Event also (siehe Disko, Seite 5)? fragte er sich, nachdem die Schweißperlen abgetropft waren. Nichts als Opium für das von Ostereiern und Ozonloch verwöhnte Volk? Oder vielleicht doch die erste Phase der für den 1. Mai prophezeiten revolutionären Schwingungen? Schließlich hatte die Berliner Polizei schon vor Tagen die Hauptstadt-Jugend dazu aufgerufen, am Tag der Arbeit nicht dem Ruf der traditionellen Veranstalter zum Oranienplatz im früheren Arbeiterbezirk SO 36 zu folgen - sondern sich auf der Bergmannstraße im kleinbürgerlichen Kreuzberg 61 einzufinden.

Andere Zeiten, andere Riten. Vielleicht war Karfreitag ja doch ein Anfang - ist denn der Weg nicht auch schon das Ziel? Allerdings wird man nächste Woche kaum wieder strampelnde Radler die geräumte Bergmannstraße entlang fahren, sondern allenfalls Gummibälle über die Friedhofsmauer fliegen sehen. Deeskalation nennt die Polizei diese Form der Substitution für härtere Geschosse. Und schreibt ihr Aha-Konzept genanntes Programm dieses Jahr ganz groß. Zur Abrundung steht deshalb auch Torwand-Wettschießen gegen leibhaftige Polizisten auf der Tagesordnung. Schieß doch, Bulle! Nie war der 1. Mai befreiter. Und das alles vor dem Werkstor.