Prodi macht Tempo

Die EU-Kommission will bis zum Gipfel in Helsinki einen umfassenden Reformplan vorlegen.

Dies ist unsere letzte Chance, Ordnung im Haus Europa zu schaffen", drängelt Romano Prodi. Als er Mitte September das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission antrat, hatte er grundlegende Reformen angekündigt. Nicht nur das Team der 19 KommissarInnen sollte ausgetauscht, auch die Regeln, nach denen europäische Politik gemacht wird, sollten neu definiert werden. Notwendig ist das vor allem, weil die EU bald wachsen wird. "Wir müssen jetzt alle Reformen der europäischen Institutionen prüfen, die für die Vorbereitung der Erweiterung notwendig sind", sagte Prodi Anfang November, als er zusammen mit Kommissar Michel Barnier die Vorstellungen der Kommission zur geplanten Reform dem Europaparlament vorlegte.

Zwar sieht schon der 1997 in Amsterdam verabschiedete Regierungsvertrag institutionelle Reformen in zwei Schritten vor: Eine begrenzte Reform bei der ersten Erweiterung und eine umfassendere Reform, wenn die Anzahl der EU-Mitglieder 20 übersteigt. Das könnte allerdings schon bei der geplanten Ost-Erweiterung der Fall sein. Zur Zeit werden Gespräche mit sechs EU-Kandidaten geführt. Prodi dauert deshalb der Amsterdamer Plan zu lange. Er plädiert stattdessen für eine "Alles in einem Aufwasch-Prozedur". Eine Meinung, der sich letzte Woche das Europa-Parlament anschloss. Mit 273 Ja- gegen 85 Nein-Stimmen und 41 Enthaltungen nahmen die Abgeordneten am vergangenen Donnerstag eine Resolution an, in der die 15 Regierungen aufgefordert werden, "eine grundlegende Reform" der Union durchzuführen.

Ein neuer Regierungsvertrag muss her, und den will Romano Prodi bis Ende 2000 auf dem Tisch haben. Vorbereitet wird ein solcher Vertrag nach den EU-Regeln von der Regierungskonferenz, der Intergovernmental Conference (IGC). Dieses Gremium soll, wenn es nach Prodi geht, bereits ab Januar 2000 tagen, sodass die Staats- und Regierungschefs bei ihrer Abschluss-Sitzung unter der französischen Präsidentschaft in Paris im Dezember 2000 den neuen Vertrag unterzeichnen können.

Dringend geregelt werden müssen vor allem die Fragen, wieviel Mitglieder die Kommission in der erweiterten EU haben soll, und welche Länder überhaupt noch KommissarInnen entsenden dürfen. Interessant dürfte auch sein, wieviel die Stimmen der großen Staaten im Vergleich zu den kleinen zählen. Zur Diskussion steht auch die Art und Weise der Entscheidungsfindung in den Ministerräten: Dass bisher so lange verhandelt werden musste, bis ein Vorschlag einstimmig angenommen werden konnte, machte so manche Entscheidung auf europäischem Niveau unmöglich.

Doch sowohl Prodi als auch dem europäischen Parlament geht es um mehr: "Die Anzahl der Richter beim Europäischen Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz sowie die Anzahl der Mitglieder des Rechnungshofes müssen überprüft werden", stellte Prodi fest. Dazu soll auch überlegt werden, wieviel Abgeordnete ins Parlament gewählt werden können, wenn die EU mehr als 15 Mitglieder zählt. Die Höchstzahl der Abgeordneten ist auf 700 festgelegt - derzeit sitzen 625 VolksvertreterInnen in Strasbourg. Des Weiteren soll die Reform auch Bereiche umfassen, die nicht direkt die Erweiterung betreffen: beispielsweise die Organisation der europäischen Verteidigung oder die geplante Grundrechte-Charta der EU. Weder Parlament noch Kommission haben allerdings bisher konkrete Vorstellungen über die Organisation der EU im nächsten Jahrtausend geäußert.

In Prodis Papier werden wohlweislich keine Zahlen genannt, denn die Frage nach der Anzahl der Mitglieder der Kommission ist durchaus brisant. Es könnte sogar der Fall eintreten, dass nicht mehr wie bisher jedes Land "seinen" Kommissar nach Brüssel schicken kann. Kleinstaaten könnten möglicherweise leer ausgehen. Das Kommissionspapier tastet das Terrain vorsichtig ab: Eine zu große Anzahl von Kommissaren könne das Gleichgewicht im Zusammenspiel von Präsident und Kommission stören. Und:

Es müsse ein Gleichgewicht zwischen der Zahl der Ressorts und der Menge der Aufgaben der Kommission gefunden werden.

Auch auf anderen Gebieten hält sich die Kommission bislang eher bedeckt. "Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit muss unseres Erachtens die Regel werden", stellte Michel Barnier, EU-Kommissar für institutionelle Angelegenheiten zwar klar. Für welche Bereiche "ausnahmsweise" weiterhin Einstimmigkeit erforderlich sein wird, müssen die 15 noch ausdiskutieren.

Bislang steht Romano Prodi mit seinem Reformvorschlag im Regen - Reaktionen aus den Mitgliedsstaaten gibt es bisher kaum. Selbst wenn sich Parlament und Kommission einig sind, ist das in den einzelnen Mitgliedstaaten noch lange nicht der Fall. Kein Wunder, dass Länder wie Luxemburg das Geschehen mit großer Skepsis beobachten.

Doch auch die Großen sind alles andere als begeistert: Vor allem Frankreich und Deutschland geht der Vorschlag zu weit. "Maximalistische Lösungen müssen vermieden werden", sagt etwa Pierre Moscovici, französischer Minister für europäische Fragen. Er und sein deutscher Kollege Christoph Zoepel wollen in einem ersten Schritt nur drei Punkte reformiert sehen: Größe der Kommission, Stimmengewichtung der Mitgliedsstaaten und die Abstimmungsprozedur mit qualifizierter Mehrheit. "Jeder, der einen Holzscheit im Kamin nachlegt, wird für den Brand des ganzen Gebäudes verantwortlich sein", warnte Moscovici Mitte Oktober vor EU-Abgeordneten. Zwar sind seine Reden inzwischen etwas moderater geworden, auf Prodi-Linie sind jedoch weder er noch Jospin.

Wenn es um Funktionen im Rechnungs- oder Gerichtshof geht, sind zähe Verhandlungen um nationale Interessen programmiert. Dazu kommt das Tempo, das der Kommissionspräsident vorlegt. "Die nötigen Reformen unserer Institutionen müssen bis Ende 2002 abgeschlossen sein, weil die Verhandlungen mit den meisten der Bewerberländer dann zu ihrem Abschluss kommen werden", sagte Romano Prodi vor den EU-Abgeordneten - und drängte auf eine schnelle Entscheidung: "Ich glaube, dass unsere Bürger mit Ärger und Unverständnis auf ein Europa reagieren würden, das in ihren Augen seine ganze Zeit mit einer Überprüfung der Institutionen verbringt, die einer unendlichen Nabelschau gleicht."

Bis zum Rat der Europäischen Union Mitte Dezember in Helsinki muss er einen konkreteren Reformplan vorlegen. Dort wird dann die Regierungskonferenz offiziell eingeleitet. Prodi will Nägel mit Köpfen. Er sei nicht "begeistert von der Idee, nach der bevorstehenden IGC noch eine weitere Konferenz zu organisieren", stellte der Kommissionspräsident klar.