China-Taiwan-Konflikt

Doktrinen-Clinch

Mit "Problemen" dieser Art kennt man sich am ehesten in Deutschland aus. So mag es eine Ironie der Geschichte sein, daß ausgerechnet ein Interview der Deutschen Welle eine der schwersten außenpolitischen Krisen in Ostasien ausgelöst hat. Taiwans Präsident Li Denghui hatte am 9. Juli gegenüber einem Mitarbeiter des Senders erklärt, China und Taiwan seien gleichberechtigte Staaten. Das war keine banale Tatsachenfeststellung, sondern eine Sensation: Mit dieser beiläufigen Äußerung kündigte Taipeh einen Konsens auf, der zu den Fundamenten des Machtgleichgewichts in Ostasien und dem westlichen Pazifik gehört hatte.

Peking reagierte prompt und wie zu erwarten war: Verteidigungsminister Chi Haotian drohte, die Volksbefreiungsarmee stehe bereit, um jegliche Versuche zur Teilung des Landes niederzuschlagen. Ganz nebenbei gab der Staatsrat, die Regierung der Volksrepublik, offiziell bekannt, daß China seit 1988 über die Technologie zur Herstellung der Neutronenbombe verfüge.

Die USA und Japan forderten beide Regierungen zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts auf und bekräftigten ihr Bekenntnis zur "Ein-China"-Doktrin. Obwohl die USA durch den militärischen Beistandspakt die Garantiemacht für die Souveränität Taiwans sind, haben sie sich seit der Annäherung 1972 gegenüber Peking zur "Ein-China"-Politik verpflichtet.

Bei aller gegenseitigen Feindschaft hatte seit 1949 keine Regierung in Peking oder Taipeh je diese Doktrin in Frage gestellt. Freilich hatte der ökonomische take off Taiwans seit den achtziger Jahren die dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen wieder virulent werden lassen. Die größte Oppositionspartei, die demokratische Fortschrittspartei, bekennt sich offen zur Zweistaatlichkeit. Daß die Treueschwüre zur Wiedervereinigung bei der neuen Führungsgeneration Taiwans nur noch reine Lippenbekenntnisse waren, ist bekannt.

Dem Ausland, insbesondere dem Erzfeind Japan gegenüber ist man sich in der gesamten chinesischen Welt noch einig: Als es 1997 zu Scharmützeln zwischen Chinesen und Japanern um die Diaoyutai-Inseln gekommen war, organisierten der Sympathie mit der KPCh gewiß unverdächtige Kräfte in Hongkong und Taiwan sowie die chinesische Exilopposition in aller Welt Demonstrationen, um "ihre" Regierung in Peking zu einer härteren Gangart gegenüber den "japanischen Teufeln" aufzufordern.

Immer weniger sind die Taiwaner aber bereit, sich wegen nationaler Reminiszenzen zur Randprovinz eines Entwicklungslandes degradieren zu lassen. So änderte Peking seine Haltung und riskierte 1996, als die chinesische Marine Raketen in der Meeresstraße von Taiwan abfeuerte und die USA zwei Flugzeugträgerverbände in Marsch setzten, erstmals eine militärische Eskalation. Aus Pekinger Sicht bedeutete die 1991 ausgehandelte Formel "Ein China, zwei politische Gebilde" bereits ein weitergehendes Zugeständnis als das "Ein Land, zwei Systeme" gegenüber Hongkong.

Nach drei Jahrzehnten strikter gegenseitiger Abschottung hatte die Öffnungspolitik Deng Xiaopings sofort die verwandtschaftlichen guanxi zwischen Taiwan und Festland wieder aktiviert. Der wirtschaftliche Aufschwung der südchinesischen Küstenprovinzen verdankt sich zu einem guten Teil den Kapitalzuflüssen aus Taiwan. Über die politischen Grenzen hinweg bilden Hongkong, Taiwan und die südostchinesischen Provinzen heute einen einheitlichen Wirtschaftsraum. Peking ist daher aus wirtschaftlichen Gründen interessiert, den bisherigen Schwebezustand einer offiziell verleugneten De-facto-Zweistaatlichkeit zu erhalten. Eine schnelle Wiedervereinigung steht keineswegs oben auf der Prioritätenliste.

Andererseits ist der chinesische Nationalismus, zu dem die Eingliederung aller seit Mitte des 19. Jahrhunderts verlorenen Bestandteile des Qing-Reiches gehört, nach dem Verblassen aller sozialistischen Utopien sowohl die einzige Klammer zwischen den verschiedenen Fraktionen des Machtapparates als auch die einzige noch unangefochtene Legitimationsgrundlage des Machtmonopols der Partei gegenüber der Bevölkerung. Den Stolz auf das ökonomisch Erreichte hat die Pekinger Führung geschickt auszunutzen verstanden, jegliche "Einmischung in die inneren Angelegenheiten" durch den Westen entschieden zurückzuweisen. Erst recht dürfte die Versuchung zu außenpolitischen Muskelspielen steigen, wenn bei rückläufigen ökonomischen Wachstumsraten die sozialen Konflikte zunehmen.