Veto-Brecher

Über Belgrad verteidigen die USA ihren Einfluß - gegen Deutschland.

Die internationalen Beziehungen (so nennt die Wissenschaft das Milieu der staatlichen Interessendurchsetzung) sind nach einer Phase relativer Stabilität ziemlich durcheinander geraten. Zwischen 1950 und 1989/90 - in der Folge des Sieges über Hitlerdeutschland - gab es zwei relativ stabile Staatenblöcke, die ihre Claims abgesteckt hatten, die je unter dem unanfechtbaren Kommando einer Hegemonialmacht standen und die ihre Scharmützel in Form von kolonialen und antikolonialen Kriegen in entlegeneren Zonen der Welt austrugen. Am Ende der achtziger Jahre brach die Ökonomie des Sowjetblocks zusammen, das osteuropäische Staatengefüge geriet ins Wanken.

Die westlichen Großmächte wollten stabile Verhältnisse und boten den Osteuropäern Demokratie und Marktwirtschaft mit der Aussicht auf späteren Wohlstand an. Deutschland dagegen, befreit von den letzten Beschränkungen staatlicher Souveränität und an der Nahtstelle der früheren Blöcke gelegen, nutzte entschlossen die Gelegenheit zur nachhaltigen Dynamisierung der Verhältnisse, die seinen wirtschaftlichen und machtpolitischen Ambitionen jahrzehntelang im Weg gestanden hatten. Offiziell ebenfalls an Demokratie, Marktwirtschaft und Stabilität orientiert, modernisierte die europäische Zentralmacht bewährte Muster des Machtgewinns: Soziale Konflikte in Ost- und Südosteuropa wurden durchgängig ethnisiert, Separationsbestrebungen von "Volksgruppen" systematisch unterstützt, auf die Gründung eigener Staaten fixierte Anführer völkischer Gangs haben erstklassige Verbindungen nach Bonn. Die Zerstörung alter und die Schaffung neuer - hier zuerst: eigener - Grenzen wurde zu einem vordringlichen Projekt deutscher Außenpolitik.

Was international mittlerweile zum Axiom politischer Arithmetik gehört, daß nämlich die von Bonn in der EU durchgesetzte Anerkennungspolitik den gewaltförmigen Zerfall Jugoslawiens entscheidend vorangetrieben hat, wird hierzulande vornehm beschwiegen. Als letzte Woche auf der Leipziger Buchmesse Eric J. Hobsbawm mit einem Preis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde, nannte es der britische Historiker laut Berliner Tagesspiegel "eine tragische Entscheidung, daß nach dem Zerfall Jugoslawiens auf deutsche Initiative hin Slowenien, Kroatien und Bosnien sofort anerkannt" worden seien. In anderen überregionalen Zeitungen war diese Meldung nicht zu finden.

Mit Joseph Fischer hat das deutsche Stück der völkischen Parzellierung Europas eine vorzügliche Besetzung gefunden. Der Außenminister macht weiter, wo Kinkel aufgehört hat, und spricht mittlerweile - im Zusammenhang mit dem Kosovo - umstandslos von "Volksgruppen", ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß in diesem Begriff historisch ein Großteil deutscher Expansionslogik konzentriert ist. Gleichzeitig gilt er international als unverdächtig, weil bekannt ist, daß er gegen das hiesige Establishment Vorbehalte hatte. Nicht unwesentlich ist zudem auf längere Sicht, daß die Idee ethnischer Separation in ihren aktuellen Varianten sehr schön mit grünen Phantasien von Kleinräumigkeit, Regionalismus, Selbstbestimmung und Dezentralisierung korrespondiert.

Rußland ist der große Verlierer. Völlig unbeeindruckt von russischen Protesten und im Vertrauen auf den Kredithunger der ehemaligen Weltmacht begann die Nato letzte Woche mit dem Bombardement gegen Jugoslawien. Rußland rief daraufhin seinen Nato-Vertreter aus Brüssel zurück, schloß die Büros des Bündnisses in Moskau und intervenierte erfolglos im UN-Sicherheitsrat gegen die Militärschläge. Daß in Moskau unmittelbar nach Beginn der Luftangriffe über Rundfunk Freiwillige für den Kampf in Jugoslawien rekrutiert wurden, tat man im Westen genauso als Folklore ab wie das Angebot des Generals Tschetschewatow, der in einem Brief an Jelzin die Militärschläge als Beginn des "Dritten Weltkrieges" bezeichnet und sich selbst bereit erklärt hatte, einen russischen Militäreinsatz zur Unterstützung Jugoslawiens zu kommandieren. Die Coolness, mit der man im Westen Rußland überging, beruht auf dem etwas riskanten Kalkül, daß die neue Klasse von Exportunternehmern, die die russischen Rohstoffvorräte zum eigenen Vorteil und mit mafiosen Praktiken auf dem Weltmarkt verschleudern, ihre politische Macht dauerhaft gegen Sjuganows Kommunisten und andere Nationalisten sichern können.

Der zweite Verlierer ist die Uno. Selbst fanatische Befürworter eines Angriffes auf Jugoslawien lassen keinen Zweifel an der Tatsache, daß die Bombardements das Völkerrecht in eklatanter Weise außer Kraft setzen. Die Nato hat einen souveränen Staat, der Mitglied der Vereinten Nationen ist, angegriffen, das dafür erforderliche Votum des Sicherheitsrates existiert nicht. Nach den Normen der UN-Charta hat Jugoslawien nicht nur das Recht auf Gegenwehr, sondern auch auf Unterstützung von außen. Als Akteur war die Uno in den Wochen vor dem Angriff, etwa während der Verhandlungen von Rambouillet, ausgeschaltet.

Damit ist, neben einem Stück Nachkriegsgeschichte, auch das Konzept der "Internationalen Staatengemeinschaft" entsorgt, das noch bei den Interventionen im Irak und in Somalia ein halbwegs akzeptiertes Argumentationsgerüst abgegeben hatte.

Glaubt man zahllosen, auch internationalen Zeitungskommentaren zum Thema, hat die Uno nur noch die Chance, ihre Statuten den Bedürfnissen der Großmächte anzupassen - Thomas Schmid formulierte dies in der taz so: "Wer das Völkerrecht derart strapaziert, muß auch alle Energie darauf verwenden, dies dem gestiegenen Interventionsbedarf anzupassen." Im Tagesspiegel sekundierte der Münchener Völkerrechtler Bruno Simma: "China und Rußland müssen mit ihrer Veto-Politik verantwortungsvoller umgehen." Der Sitz im Sicherheitsrat sei für Moskau "eine der letzten Bastionen der Großmachtstellung. Die verliert es, wenn es die USA durch Blockadepolitik ermuntert, den Sicherheitsrat zu umgehen." Dennoch besteht die Möglichkeit, daß Rußland und die Uno ihr Gesicht wahren: Wenn es Jelzin gelingt, Milosevic zur Hinnahme der Stationierung von UN-Truppen (statt, wie bisher verlangt, von Nato-Truppen) im Kosovo zu bewegen, unter denen sich auch russische Soldaten befinden könnten.

Das Hamburger Friedensforschungsinstitut IFSH wies in der Debatte um die völkerrechtlichen Folgen des aktuellen Militärschlags darauf hin, daß die USA auf dem Washingtoner Nato-Strategiegipfel Ende April darauf hinarbeiten wollen, die "Begrenzung des Vertragsgebietes aufzuheben und die Nato zu einem weltweit operationsfähigen Interventionsinstrument auszubauen". Die Bundesregierung, so die Friedensforscher, sei - gerade im Blick auf den rot-grünen Koalitionsvertrag - aufgefordert, dies zu verhindern.

Daraus wird so nichts werden. Die erstmalige Beteiligung von Bundeswehr-Tornados an Kampfeinsätzen ist vorläufiger Höhepunkt einer seit Beginn der neunziger Jahre forcierten Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Vor fünf Jahren waren von der Bundeswehr-Spitze Richtlinien vorgestellt worden, die weltweite Bundeswehreinsätze unter anderem zur Sicherung der Rohstoffzufuhr und des Zugangs zu den internationalen Märkten verlangten - Forderungen, die sich von denen der US-Militärs nur durch ihr Menschenrechtspathos unterscheiden lassen.

Faßt man die skizzierten Entwicklungen zusammen, dann tobt sich über Belgrad und Pristina ein Konkurrenzkampf aus, der auch durch ein zeitweiliges Zusammengehen der Beteiligten nicht stillzustellen ist. Es gibt weltweit nur zwei Instanzen, die derzeit soziale oder ethnische Auseinandersetzungen zum eingriffserfordernden Konflikt, d.h. zur "humanitären Katastrophe" adeln können: die USA und die europäische Zentralmacht Deutschland. Die Amerikaner sind hier im Nachteil: Forcieren die Deutschen eine Intervention, müssen sie mitziehen, um einen Machtverlust zu verhüten. Die Deutschen dagegen können - wie im Falle des Irak - auch mal sagen: Macht's gut, Jungs. Den USA als etablierter Weltmacht geht es dabei um die möglichst weitgehende Stabilisierung des Status quo von Einflußzonen, darum, bestehende Staaten und Grenzen aufrechtzuerhalten.

Bei Deutschland, mit rasanter Geschwindigkeit zum zweitmächtigsten Staat der Welt avanciert, ist das Gegenteil der Fall: aufmischen, wo immer möglich. Deshalb auch haben die USA einige Anstrengungen unternommen, die albanische UCK kleinzuhalten. Und deshalb ist in Bonn niemand der Idee verfallen, die aus Deutschland mit Logistik, Waffen, Uniformen und Geld versorgte völkische Truppe zu behindern. Im letzten Jahr deckte das TV-Magazin "Panorama" auf, daß deutsche Geheimdienste Nachtsichtgeräte und anderes hochwertiges Material an albanische Kollegen lieferten, die es dann der UCK übergaben. Die FAZ schrieb letzten Samstag mit geheimnisvollem Unterton, es sei "schwer vorstellbar, daß die Albaner auf dem Kosovo (...) noch einmal, und sei es auch nur für eine Übergangszeit, die serbische Oberhoheit hinnehmen".

Nachdem der britische Premier Tony Blair kürzlich für eigene EU-Militärkapazitäten geworben hatte, war die FAZ hocherfreut gewesen: Im Blick auf das Verhältnis von Nato und EU stellte man fest, "daß sich möglicherweise ein neues Verhältnis zwischen den beiden wichtigsten Organisationen des euro-atlantischen Raumes anbahnt - mit einer gleichgewichtigeren Verteilung von Lasten, Pflichten und Verantwortlichkeiten". Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft jedenfalls hat neulich erklärt, sie wolle in den kommenden Monaten das Zukunftsprogramm "Europäische Sicherheitsidentität" mit konkreten Inhalten füllen. Trotz einer Vielzahl zustimmender Signale aus Frankreich und Großbritannien wird die von Deutschland forcierte militärpolitische Abkopplung von den USA schwierig werden: Sowohl in Paris als auch in London mißtraut man dem Hegemonialstreben Deutschlands nicht weniger als dem der USA. Aber bei letzteren hat man die Garantie, zumindest immer der Juniorsieger zu sein.

Bücher, gute und schlechte, enden stets mit sorgfältig ausgesuchten Formulierungen. Ludger Volmer, einst zur Parteilinken gezählt, heute eher im verborgenen tätiger Staatsminister des Auswärtigen Amtes, hat im vorigen Jahr ein Buch über grüne Außenpolitik geschrieben. Die letzten Zeilen lauten: "Deutschland darf keine internationale Politik im nationalen Interesse betreiben. Wir brauchen eine deutsche Politik im internationalen Interesse." Das deutsche Wesen war dem der Amerikaner schon immer voraus.