Eine Boulette für jeden

Berliner Spezialitäten: Beim EU-Gipfel zur Agenda 2000 war für alle etwas dabei - für Frankreich die Milch, für Großbritannien der Rabatt und für Deutschland die Ost-Erweiterung

Aus dem von EU-Ratspräsident Gerhard Schröder großspurig angekündigten "Pakt von Berlin" wurde über Nacht das "Berliner Paket".

Vergangene Woche waren die Regierungschefs der EU zusammengekommen, um ein besonders umstrittenes Dossier endgültig vomVerhandlungstisch zu bekommen: die Agenda 2000, ein Reformpaket, das sowohl die Agrarpolitik als auch den gesamten Finanzrahmen der Union bis zum Jahr 2006 regeln soll.

Nach einer nächtelangen Debatte, die auch durch den Beginn des Nato-Krieges nicht zu stoppen war, gab eine Gemeinschaft, die nach der Selbsteinschätzung der Teilnehmer ausschließlich aus Gewinnern besteht, die Ergebnisse bekannt. Immerhin hatten sie die "Handlungsfähigkeit", d.h. Kompromißfähigkeit, der EU unter Beweis gestellt.

"Ich bin froh, daß die Europäische Union unter deutscher Ratspräsidentschaft diese Prüfung bestanden hat", verkündete ein stolzer Schröder am vergangenen Freitag nach der EU-Sondertagung. Das Berlin-Paket, das er anschließend vorstellte, sei ein Kompromiß, bei "dem alle beteiligten Parteien Abstriche machen mußten". Genau betrachtet, mußte vor allem Verhandlungsführer Deutschland in dem mühsam abgerungenen Kompromiß eine ganze Reihe von Zugeständnissen machen - jedenfalls im Vergleich zu den im Vorfeld abgesteckten Zielen.

So werden die Garantie-Preise für Agrarprodukte nicht - wie der erste Reformentwurf es vorsah - drastisch gesenkt. In Berlin wurde beschlossen, für Rindfleisch künftig 20 Prozent weniger zu zahlen - die Kommission hatte 30 Prozent vorgeschlagen. Was die Preise für Getreide und Milch betrifft, konnte sich vor allem Frankreich durchsetzen: 15 Prozent statt 20 weniger für Getreide; die Senkung der Milchpreise und die Diskussion um die Quoten wurden gar bis 2005 bzw. 2006 verschoben. Dennoch sind die Preissenkungen prinzipiell beschlossene Sache und nicht mehr rückgängig zu machen.

Weiterer Erfolg Frankreichs: Die gesamten Ausgaben für den Agrarbereich werden auf 40,5 Milliarden Euro festgelegt. Der von den Agrarministern am 11. März vorgelegte Kompromiß hätte rund eine Milliarde mehr pro Jahr gekostet. Frankreichs Präsident Jacques Chirac, ehemaliger Landwirtschaftsminister der Grande Nation, allerdings wollte diese Obergrenze aus ganz nationalen Gründen: Auf diesem Weg könnte die noch ausstehende Reform des Milchmarktes, durch die sein Land weniger Subventionen erhalten würde, neu verhandelt werden.

Geplant war auch ein neues System für die Strukturfonds der EU, die vor allem dazu da sind, den wirtschaftlich schwächeren Regionen zu helfen, deren Bruttoinlandsprodukt unter 75 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts liegt. "Effizienter" sollten sie laut Kommissionspapier werden - eine Fülle von Ausnahmeförderungen stellte dieses Ziel jedoch bereits im Vorfeld in Frage.

Zu den Strukturmaßnahmen zählen auch die Kohäsionsfonds. Sie sind dazu da, Umwelt- und Verkehrsvorhaben in den Mitgliedsstaaten zu unterstützen, deren Pro-Kopf-Einkommen unter 90 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts liegt. Um den gesamten Posten dieses Strukturfonds kämpfte in Berlin vor allem der spanische Regierungschef José Maria Aznar. Er beharrte auf den ursprünglich von der Kommission vorgeschlagenen 240 Milliarden Euro, die deutsche Präsidentschaft schlug dagegen 210 Milliarden vor. Ein Punkt, an dem der Gipfel zu kippen drohte. Schließlich wurden Aznar drei Milliarden zugestanden - mit einem Etat von 213 Milliarden Euro konnte nun auch der Spanier erhobenen Hauptes heimfahren.

In einem anderen Punkt präsentierten sich dieDeutschen ebenfalls nicht unbedingt als durchgreifende Verhandlungsführer. "Wir haben keinen einzigen Penny abgegeben", freute sich der britische Außenminister Robin Cook in der abschließenden Pressekonferenz. Der 1984 von Margaret Thatcher ausgehandelte Sonderrabatt in der Beitragszahlung wurde nicht grundsätzlich angetastet. Grund: Ein Reduzierung des Rabatts hätte es der britischen Regierung innenpolitisch außerordentlich schwer gemacht, den geplanten Euro-Beitritt voranzubringen. Das wiederum wollte keiner der Partner riskieren.

Auch in eigener Sache war man auf deutscher Seite nicht allzu erfolgreich: Die Idee einer Kofinanzierung der Agrarpolitik durch die nationalen Regierungen, die der Bundesrepublik erhebliche Einsparungen gebracht hätte, hatte Frankreich in den vorausgegangenen Verhandlungen erfolgreich verhindern können.

Die deutsche Zahlmeister-Diskussion, die Schröder großtönend angekündigt hatte, um die eigenen Beiträge zu senken, brachte ihm im Endeffekt nicht viel. Erst in einigen Jahren kann der deutsche Betrag proportional zur Wirtschaftskraft sinken. Allerdings wird die Tatsache, daß der nationale Beitrag sich künftig mehr am Bruttosozialprodukt und weniger am Mehrwertsteueraufkommen ausrichten soll, Deutschland finanziell entlasten. Belastet wird vor allem Italien, das allerdings schon dadurch entschädigt wurde, daß Romano Prodi zum Chef der kürzlich zurückgetretenen EU-Kommission gekürt wurde.

Insgesamt kam es, wie es kommen mußte: Am Schluß zeigten sich alle - einschließlich Gastgeber Gerhard Schröder und Joseph Fischer - zufrieden. Immerhin war für alle etwas dabei - die durchschlagende Wirkung des Reformpakets darf allerdings bezweifelt werden. Denn die Grundidee der eigentlichen Reform dringt nur noch verschwommen durch. Als die EU-Kommission im Juli 1997 ein 1 300 Seiten dickes Papier vorlegte, ging es darin vor allem darum, die Voraussetzungen für die EU-Ost-Erweiterung zu schaffen.

Gerade in der gemeinsamen Agrarpolitik steckt daher eine der größten Herausforderungen: Unmittelbar vor der Tür stehen Ungarn, Polen, Estland, die Tschechische Republik, Slowenien und Zypern - ihr Beitritt in die EU ist beschlossene Sache. Im Vorraum sitzen weiterhin Bulgarien, Rumänien, Lettland, Litauen und die Slowakei. Insgesamt würde sich die landwirtschaftlich genutzte Fläche in der EU auf 55 Prozent erhöhen und die Zahl der in Ackerbau und Viehzucht Beschäftigten verdoppeln.

Beim neuen Finanzplan sollten also in erster Linie Sparmaßnahmen in den bisherigen Strukturen beschlossen und die garantierten Preise der Union für bestimmte Agrarprodukte in Frage gestellt werden. Aus zweierlei Gründen: Zunächst müssen die künftigen EU-Zuschüsse für diese Länder finanziert werden. Darüber hinaus liegen die Agrarpreise in den neuen Beitrittsstaaten 40 bis 80 Prozent niedriger als in der EU. Die Preise für Getreide, Milch und Rindfleisch im Rahmen der Agenda 2000 zu senken - dafür gab es im übrigen noch einen Grund: Die Bauern müssen fit gemacht werden für den Weltmarkt, denn die Welthandelsorganisation (WTO) will künftig keine EU-protektionistischen Preisstützungen sehen. Mit der jetzt verabschiedeten Agrarreform ist man jedoch weit von solchen Vorstellungen entfernt. Das allerdings ist nicht die schlechteste Ausgangsposition, wenn die Verhandlungen mit der WTO über den weltweiten Agrarmarkt anstehen.

Spätestens, wenn die ersten Neuen der Union tatsächlich beitreten, wird die Agenda wieder zur Debatte stehen müssen. Dennoch: Die Reform wurde verabschiedet - und damit hat auch der Gastgeber eines seiner Hauptziele erreicht. Denn die wichtigsten Voraussetzungen für die Ost-Erweiterung der EU, die Deutschland politisch und wirtschaftlich am meisten nützt, sind jetzt geschaffen. Auch wenn die Agenda insgesamt ein wenig teurer geworden ist.

Immerhin 67,2 Milliarden Euro, rund ein Viertel der Agrarausgaben, könnten 2002 für die ersten Beitrittskandidaten zur Verfügung stehen. Ob das reicht, den deutschen Hinterhof im Osten zu begrünen - darüber streiten sich noch die EU-Experten. Allerdings werden der Bauherr und sein Gärtner - Schröder und Fischer - den überaus eifrigen und willigen Kandidaten eines deutlich klarmachen: Es muß reichen.