Blockade der Notenbanker

Stabil in die Deflation: Die EZB hält nichts von Lafontaines "policy mix"

Die "neue Gefahr" einer Deflation sei so aktuell wie seit 60 Jahren nicht mehr, schrieb der britische Economist vergangene Woche. Und vor allem Europa sei davon bedroht. Tatsächlich ist die gesamtwirtschaftliche Leistung der Bundesrepublik Deutschland im letzten Quartal 1998 gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt um 0,4 Prozent gesunken. Und nach Angaben des Statistischen Bundesamts stiegen die Preise für die Lebenshaltung im Januar um 0,2 Prozent - so wenig wie seit 1991 nicht mehr. Diese Talfahrt ist auch bei anderen Ländern der Eurozone zu beobachten.

Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine fordert daher bei jeder Gelegenheit eine Lockerung der Geldpolitik und eine großzügigere Interpretation des sogenannten Stabilitätspaktes, wie er im Amsterdamer Vertrag für die Mitglieder der Eurozone vorgeschrieben ist. Angesichts der zunehmend schwieriger werdenden Lage hätten die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bundesbank nicht nur die Aufgabe, die Preisstabilität zu sichern, sondern die allgemeine Wirtschaftspolitik im Sinne von mehr Beschäftigung und Investitionen zu unterstützen. Wenn in der Geldpolitik nicht bald gehandelt werde, setzten sich die deflationären Tendenzen durch. Man müsse, so Lafontaine, unverzüglich die Binnennachfrage durch einen "policy mix" von Tarif-, Fiskal- und Geldpolitik stärken.

Doch die EZB denkt nicht daran, auf die Forderung nach einer flexibleren Geldpolitik und Zinssenkungen einzugehen. Die Gegenthese lautet: Wer eine Expansion der Binnennachfrage erreichen wolle, müsse für mehr Investitionen sorgen. Erst dann könnten Multiplikatoreffekte einen neuen Aufschwung einleiten. Die Notenbanken in Europa stellen sich gegen die Forderung eines Mix aus Angebots- und Nachfragepolitik. Mehr noch: Das Drängen der sozialdemokratischen Regierungen in der Eurozone auf eine Zinssenkung wird für die Abwertung des Euro verantwortlich gemacht.

Auch die europäische Kommission hat die Forderungen aus Bonn und Paris nach einer großzügigeren Interpretation des Stabilitätspaktes zurückgewiesen. Dieser schreibt nicht nur eine Gesamtver-schuldung unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und eine Neuverschuldung deutlich unter drei Prozent des BIP vor; gefordert sind zudem Konsolidierungsanstrengungen, die Aussichten auf nachhaltige Haushaltsüberschüsse eröffnen. Ganz in dieser Logik hat die Kommission die Konzeptionen zur Haushaltssanierung aus Bonn und Paris als Minimalangebote gerügt. Stabiles Geld sei schließlich die Voraussetzung für dauerhafte Kapitalakkumulation.

Dabei haben die Notenbanken durchaus Spielraum für Zinssenkungen, ohne die Preisstabilität zu gefährden. Auch die Zinssenkungen der US-amerikanischen Notenbank im Herbst 1998 haben keineswegs zu einer schnelleren Preisteuerungsrate geführt. In allen Ländern der kapitalistischen Triade (Japan, Eurozone und Nordamerika) hat sich in den letzten Jahren eine deutliche Abschwächung der Preissteigerungsraten durchgesetzt. Die Gründe: Der intensivierte Konkurrenzkampf begrenzt nicht nur jede Absicht, Kostensteigerungen auf die Preise zu übertragen, sondern die chronische Überakkumulation in den kapitalistischen Hauptländern sorgt auch für einen Preisverfall bei Rohstoffen und drückt die Arbeitseinkommen. Die Rohstoffe liefernden Länder in der Peripherie werden durch die Schulden und Zinslasten gezwungen, die Exporte trotz niedriger Erlöse auszuweiten.

Gleichermaßen ist in den kapitalistischen Hauptländern seit Jahren ein Rückgang des Anteils der Arbeitseinkommen am verteilbaren gesellschaftlichen Reichtum zu registrieren. Selbst in den USA, wo bei einer Arbeitslosenquote von 4,3 Prozent der lohndrückende Wettbewerb durch den Einsatz der industriellen Reservearmee (underclass) weitgehend entfällt, sind die Arbeitskosten seit Jahren rückläufig. Die Lohnabhängigen haben ihr Arbeitsangebot ausgeweitet, d.h. der Preisverfall für die Arbeitsleistung wird durch die Verlängerung des Arbeitseinsatzes kompensiert. Für das Verschwinden der Inflation ist zudem eine Politik verantwortlich, die öffentliche Neuverschuldung begrenzt und eher den Abbau von öffentlichen Dienstleistungen und Sozialeinkommen in Kauf nimmt.

Die bisherige neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hatte nicht nur die hohen Preissteigerungsraten bekämpft, sondern die Unterschätzung der Überakkumulation hat zu einer deflationären Grundkonstellation geführt. Die Gefahr einer großen, d.h. zyklenübergreifenden Depression ist in den Bereich des Möglichen gerückt.

Wenn Lafontaine und andere Politiker für einen Kurswechsel in der Zinspolitik votieren, dann muß darauf verwiesen werden, daß die Ursache der ökonomischen Fehlentwicklung dadurch nicht beseitigt wird. In Japan ist kürzlich der seit langem gültige Zinssatz für kurzfristige Notenbankkredite von 0,25 auf 0,15 Prozent herabgesetzt worden. Die Regierung in Tokio versucht zusätzlich mit einem enormen Sanierungsprogramm für die Banken und der Expansion des öffentlichen Konsums, die Wirtschaftsdynamik wieder in Gang zu bringen. Eine flexible Geldpolitik ist zwar in kritischen konjunkturellen Phasen nützlich, aber der von Lafontaine geforderte "policy mix" müßte eine gründliche Korrektur der gesamtgesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse einleiten.

Die neoliberale Politik der letzten Jahre hat die im Akkumulationsprozeß eingeschlossene Polarisierung von Arbeits- und Kapitaleinkommen durch die unerträgliche Begünstigung der Vermögensbesitzer und den Verzicht auf die Stärkung von Sozial- und Arbeitseinkommen verstärkt. Die massive Schwäche der Masseneinkommen setzt sich in eine rückläufige gesellschaftliche Binnennachfrage und eine weitere Abflachung des Akkumulationsprozesses um. Die starke Betonung des Exports reicht nicht aus, die Binnenkonjunktur auf Touren zu bringen.

Deflation bezeichnet, wie das Beispiel der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre zeigt, eine Abwärtsspirale von Preisen, Löhnen, Währungskursen und auch Gewinnen. Überzogene Preise für Vermögenswerte, die durch künftige Unternehmensgewinne nicht mehr gestützt sind, leiten in der Regel eine Korrekturbewegung ein. Fallende Preise für Wertpapiere, Immobilien und Währungen können eine Bereinigung überzogener Wertbewegungen darstellen und müssen nicht automatisch zum Stillstand jeder wirtschaftlichen Dynamik führen. Normalerweise können sinkende Anlage- oder Vermögenswerte von einer intakten kapitalistischen Ökonomie verdaut werden; gefährlich ist ein Preissturz im Waren- und Dienstleistungsbereich.

Die normale Deflation kann daher innerhalb eines konjunkturellen Zyklus verarbeitet werden und stellt den Übergang zur Weiterentwicklung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses dar. Allerdings sollte die Abwärtsspirale von Wert-, Preis- und Einkommensberichtigungen nicht dadurch politisch verschärft werden, daß über Notenbanken und Fiskalpolitik eine weitere Beschränkung der Liquidität des Geldes erzeugt wird. Deflation kann in eine große Depression umschlagen, wenn das Sinken der Preise und Einkommen sich auf die kapitalistischen Metropolen auswirkt und durch entsprechende Spar- oder Austeritätspolitik die sogenannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft erstickt oder gelähmt werden.

Historisch ist eine prozyklische Notstandspolitik, die die Deflation zur Depression verstärkt, mit dem Namen Heinrich Brüning verbunden. Zu Recht konstatiert der Aachener Ökonom Karl Georg Zinn: "Die Bezeichnung Brüningsche Politik wurde für Fachökonomen zum Gattungsbegriff aller Versuche, dem Zusammenbruch von Nachfrage und Produktion mit massiver Sparpolitik zu begegnen. Es ist so, als wollte der Arzt seinen unterernährten Patienten durch eine massive Abmagerungskur kurieren."