Schlechte Zeiten

Adieu, Selbstverwirklichung. Bonjour, Fabrik - Erick Zoncas "Liebe das Leben"

Unter dem nahezu zynischen Titel "La Vie rvée des anges" ("Liebe das Leben") zeichnet der französische Regisseur Erick Zonca in seinem ersten Kinofilm eine Art Gegenwelt zum medialen Schlaraffenland, das uns flippige Boys und Girlies, wahlweise bekleidet von H & M, Hallhuber oder Jil Sander auf allen Kanälen vorleben.

Während man sich z.B. in "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" die aufregenden, kreativen, spannenden und lukrativen Jobs inklusive "Selbstverwirklichung", mit freundlicher Unterstützung von Hansaplast Footcare, auch ohne jede Ausbildung nur vom Baum zu pflücken braucht, sitzt Isa in "Liebe das Leben" in einer Fabrik in Lille und steckt unter den Worten ihres Einarbeiters: "Als ob du nie etwas anderes gemacht hättest" Drähte zu einem Computer-Anschlußkabel zusammen.

Am zweiten Tag schon fliegt sie wieder raus: alles falsch gemacht. Aber: Isa hat Marie (Natacha Régnier) getroffen. Große, braune, Augen, neugierige Augen versuchen sich mit blauen verschüchterten zu verbünden, die jedem Blick ausweichen. Ein dichtes Geflecht aus Beziehungen entsteht zwischen Isa und Marie und der im Koma liegenden Sandrine, deren Appartement die beiden Frauen bewohnen. Schon bald aber zeigt sich, daß Isa und Marie trotz des gleichen sozialen Hintergrunds kein Team werden können.

Isa versucht sich, erstaunlicherweise stets optimistisch, in der neuen Klasse der Jobber einzurichten. Zugleich beginnt sie die Lebenswelt der wohlbehütet aufgewachsenen Sandrine zu erforschen, nachdem sie deren Tagebuch in der Wohnung entdeckt hat. Sie liest diese Aufzeichnungen nicht als intime Bekenntnisse einer ihr fremden Person. In den Worten Sandrines erkennt Isa vielmehr ihre eigenen Gedanken wieder, die sie jedoch niemals so hätte ausdrücken können. Es eröffnet sich ihr eine Welt der Kultur und Bildung, zu der ihr der Zugang bisher verwehrt geblieben ist, und sie versucht, in ungewandter Diktion das Tagebuch für Sandrine fortzuführen. Marie hingegen trifft sich heimlich mit Chris, einem attraktiven jungen Mann aus reichem Hause. Das "Ja, verlieb dich in sie!", das man ihm in Erwartung eines Märchenprinzen gleich zurufen möchte, bleibt schnell im Halse stecken. Marie beginnt sich in dieser destruktiven Liebe zu verlieren, von der sie sich verzweifelt einen Ausweg aus dem proletarischen Sumpf zu erhoffen scheint.

Mosaikhaft werden Erlebnisse, Wünsche, Hoffnungen, Träume und Begegnungen der Figuren zu einem Bild der Gesellschaft zusammengesetzt, das mit seiner Eindringlichkeit mehr als nur eine Seifenblase zum Platzen bringt. Das Knistern, das beim Drehen von Zigaretten zu hören ist, soll keine Underdog-Romantik beschwören; das Geräusch zieht sich eher als auditiver Kontrast zu den zuweilen poetischen Bildern durch den Film.

Fernab von quirliger Selbstironie und eklektischen Zitatensammlungen, verläßt Erick Zonca sich ganz auf die Ausdrucksstärke seiner Darsteller und fängt mit großem Gespür für die entscheidenden Details ihre Regungen ein.

Elodie Bouchez und Natacha Régnier erhielten für ihre Arbeit in "Liebe das Leben" die Auszeichnung "Beste Darstellerinnen" bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes.

"Liebe das Leben". F 1998. R: Erick Zonca. D: Elodie Bouchez, Natacha Régnier, Jo Prestia. Start: 15. Oktober