Kein Frieden mit Hassan

Der Fall des Oppositionellen Serfaty wurde zur ersten Niederlage der marokkanischen Demokraten

"Ich werde ihn nicht um Gnade bitten", meint Abraham Serfaty, Marokkos letzter Dissident. "Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Die Verbrechen und die Diktatur hat König Hassan II. zu verantworten." Doch die Begnadigung durch den Monarchen von Marokko ist der einzige Weg, der dem früheren Revolutionär Serfaty bleibt, um in sein Land zurückzukehren.

Nach dreiwöchigem Beratungen haben Marokkos Verfassungsrichter Mitte Juli erklärt, sie seien für die juristische Prüfung einer Aufhebung von Serfatys Ausweisung nicht zuständig. Wer sich wie Serfaty den Haß des marokkanischen Königs zugezogen hat, wird ihn eben nicht mehr los. Bereits zweimal auf Betreiben des Königs zum Tode verurteilt, aber auch zweimal wieder begnadigt wurde hingegen Abderrahman Youssoufi, der Vorsitzende der sozialistischen USFP (Union socialiste des forces populaires). Youssoufi versucht heute als Ministerpräsident Marokko zu regieren. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit im Jahre 1956 hat Hassan II. die Demokraten und Königsgegner von einst an die Macht gelassen.

Gleich nach dem Amtsantritt am 17. April hatte die neue Mitte-Links-Regierung die Rückkehr des historischen Regimegegners Serfaty versprochen. Eine Prestigefrage, denn der 72jährige gilt als Verkörperung der marokkanischen Opposition. Der Kommunist und frühere Staatsbeamte wollte die Monarchie stürzen und wurde 1977 im bisher letzten Schauprozeß des Regimes zusammen mit 138 anderen Revolutionären zu lebenslanger Haft verurteilt. Anders als der noch ältere Sozialistenchef Youssoufi hat Serfaty jedoch nie daran gedacht, Frieden mit Hassan II. zu schließen.

Seit rund 26 Jahren kämpft er gegen den lange autokratisch regierenden König: zwei Jahre davon im Untergrund, 17 Jahre hinter Gittern. Heute schleppt sich Serfaty auf Krücken vorwärts, in den Jeans stecken zwei unbrauchbar gewordene Beine, und sein Mittelfinger der linken Hand ist steif: eine Folge von Folter und Krankheit. Als er 1991 aus dem Gefängnis kam, wurde er sofort nach Frankreich abgeschoben.

Damals war die Europäische Union, an die Hassan II. sein Land aus wirtschaftlichen Gründen so gern binden würde, ungnädig geworden und hatte auf die Einhaltung der Menschenrechte bestanden. Die Geheimgefängnisse für in Ungnade gefallene Militärs wurden also abgerissen, und 1994 ließ der König eine Amnestie für politische Gefangene folgen - Serfaty fiel nicht darunter. Der marokkanische Jude Serfaty habe seine Staatsbürgerschaft erschwindelt und sei in Wirklichkeit ein Brasilianer, führte der Innenminister Driss Basri damals zur Erklärung an. Geglaubt hat das niemand.

Basri ist auch in der neuen Mitte-Links-Regierung Innenminister und kontrolliert als solcher Polizei, Wirtschaft, Provinzverwaltung und die Wahlen. Der König hat den Demokraten seinen treuesten Gefolgsmann aufgezwungen und daneben noch fünf weitere Minister in den Schlüsselministerien Außenpolitik, Justiz und Religiöse Angelegenheiten.

Youssoufi muß damit leben. Er spricht von der "Palast-Partei" in seinem Kabinett, als ob die Aufpasser des Königs ganz normale Koalitionspartner seien. Serfaty kann sich von seinem französischen Exil aus mehr erlauben: "Basri muß weg", fordert er, man müsse ihn stürzen. Die Entscheidung der Verfassungsrichter von Rabat zeige zudem, wie mächtig der Minister nach wie vor sei.

Die Entscheidung der Verfassungsrichter im Fall Serfaty ist die erste schwere Niederlage der demokratischen Parteien - der USFP, der nationalistischen Istiql‰l und der früheren Kommunisten des PPS (Parti pour le progrès socialiste). Bisher ist der Machtkampf zwischen Palast und Regierung kaum nach außen getragen worden. Zu er-drückend sind die Aufgaben, vor der die "Regierung des politischen Wechsels" steht, und zu groß die Erwartungen der Bevölkerung.

Offiziell liegt die Erwerbslosenrate bei 17,5 Prozent, über 900 000 Marokkaner haben keine Arbeit. Tatsächlich dürften es mindestens doppelt so viele sein. Selbst die Regierung ist auf Schätzungen angewiesen. Funktionierende Arbeitsämter gab es bislang nicht, sie werden jetzt erst eingerichtet, der Arbeitsmarkt selbst ist eigentlich nicht definiert. Marokkos Wirtschaft, erklärt Nadia Salah, die Chefredakteurin der Wochenzeitung Economiste in Casablanca, teile sich in drei Bereiche auf: Schattenwirtschaft, legale Produktion und Dienstleistung und die hauptsächlich von Großgrundbesitz lebenden Rentiers. Steuern würden im Regelfall in keinem dieser Bereiche korrekt gezahlt.

So begann die Mitte-Links-Regierung ihre Amtszeit gleich mit dem Bruch eines Wahlversprechens und offerierte den Unternehmern eine "Steueramnestie". "Die Maschine ist blockiert", verteidigte sich der sozialistische Finanzminister Fathalla Oualalou, "sie muß wieder anspringen." Acht Prozent Wachstum soll es dieses Jahr geben, und mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts darf nach eigenen Vorgaben die Verschuldung nicht betragen.

Der Haushalt der Regierung Youssoufi fiel daher recht bescheiden aus. Zwar steigen die Ausgaben in den Ressorts für soziale Aufgaben um zehn bis gar 40 Prozent. Angesichts der geringen Ausgangsbasis ist das allerdings nicht allzu viel - "die Sozialbudgets sind schwach", gibt selbst der Finanzminister zu. Er will sparen, denn die Tilgung von Marokkos Schulden macht mittlerweile ein Drittel der Staatseinnahmen aus.

So wollen die Sozialisten nur 12 000 neue Posten im öffentlichen Dienst schaffen. Marokkos junge Akademiker haben viel mehr erwartet, mindestens 150 000 Hochschulabgänger sind derzeit arbeitslos. Das Palastregime wie die neue Regierung sehen das mit Furcht, denn an den Universitäten von Casablanca, Rabat, Fès sind die Islamisten vorherrschend; auch wenn sie außerhalb der Universitäten bisher keine bedeutende Kraft darstellen.

Die Unzufriedenheit der Jungen gilt als größte Gefahr für Marokkos Stabilität. Marokko versucht längst, sich in der sozialen Dauerkrise einzurichten, und so hat sich eine Art Minimalwirtschaft etabliert: Es gibt keine Arbeit, die zu gering wäre. Es gibt Parkplatzsucher im blauen Kittel für die Büroangestellten am Morgen und Hauswächter für die Nacht, die jeden Abend mit Gaskocher und Suppentopf in die Eingangshalle der Mietshäuser einziehen. Auf den Straßen bietet man stundenlang ein neues Sakko feil oder gar einzelne Zigaretten für je einen Dirham, etwa zwanzig Pfennige.

"Wer hier wo die Strippen zieht, ist völlig unklar. Die Marokkaner selbst begreifen ihr Land nicht", meint ein deutscher Beobachter. Nur eins ist klar: Der König ist eine Schlüsselperson. Denkt er an eine Demokratisierung der konstitutionellen Monarchie nach dem Vorbild des spanischen Königs Juan Carlos? Oder war die Berufung des 74jährigen Youssoufi zum Regierungschef nur der letzte und sublimste Akt von Hassans Regentschaft, bevor er die Macht an Moulay Hassan, seinen ältesten Sohn, weitergibt? Jedenfalls hat er bereits Vorkehrungen getroffen, die Öffnung seines Regimes so vorsichtig wie möglich zu gestalten: Eine zweite Parlamentskammer wurde für die kapitalträchtige Schicht des Landes installiert, eine ständische Vertretung der "sozialen Kräfte" als Korrektiv zum Parlament, wo die "koutla", das Bündnis der demokratischen Parteien, ohnehin nur eine bescheidene Mehrheit hat. In dieser "Kammer der Berater" haben die konservativ geprägten ländlichen Regionen - und damit auch die dort dominierenden Latifundien-Besitzer - höheren Einfluß. "Die wollten Garantien", sagt ein Journalist - zugleich USFP-Mitglied - über die Unternehmer. "Die sind zum König gelaufen und haben ihm gesagt: Wenn Sie die Linke an die Macht lassen, sperren wir die Fabriken zu, wir gehen ins Ausland, wir machen eine soziale Krise." Die ständische "Kammer der Berater" bietet Hassan II. aber noch ganz andere Möglichkeiten - als Absicherung für den Fall, daß beispielsweise das Parlament widerspenstig werden sollte. Einige symbolische Siege über den Palast haben Marokkos Demokraten immerhin erzielt: Mehr als fünfzig Richter wurden wegen Korruption vor den obersten Richterausschuß gestellt, Youssoufi hat von seinen 41 Ministern die Offenlegung ihrer Vermögen verlangt, und amnesty international erhielt die Erlaubnis, ein Büro in Rabat zu eröffnen.

Vor allem weiß der Premier, mittlerweile Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, die Unterstützung des Westens und insbesondere der französischen Regierung hinter sich. Frankreich ist Marokkos wichtigster politischer Partner. In dem nordafrikanischen Staat erhofft man sich von der früheren Protektoratsmacht, sie sei der Türöffner zur EU. Im Oktober wird der Ministerpräsident des Königs offiziell nach Frankreich reisen.