41. Der Finger der Geschichte

Fortgesetzte Erählungen

Louis Wurz, ein pyknischer, rothaariger Bursche, wanderte also mit einem Trupp Aufrührer über die kahle Anhöhe, wo gut hundert Jahre später zwischen den Trümmern einer Flakstellung das Barackenlager stand, in dem Matthis, der Uhrenklau, untergebracht war, und freute sich.

Es war der 15. September 1830, zwei Tage nachdem der Hering von Wellington die erste Eisenbahnlinie von Manchester nach Liverpool eingeweiht hatte, und Georg Stephenson die Northumbrian (so hieß die Lok) auf völlig unglaubliche 60 km/h brachte, um Mr. Huskisson, den Abgeordneten von Liverpool, der beim Versuch, den Zug zu besteigen, überfahren wurde und ein Bein verlor, ins Krankenhaus zu fahren (wo Huskisson alsbald verstarb) - ein frischer Tag angeblich, und Louis freute sich über die Bodennebel und das Geglitzer der Tautropfen in den ersten Lichtstrahlen.

Er erfreute sich seiner nackten Füße, mit denen er den Staub der Straße aufwirbelte, des frischen Wassers, das aus den Felsspalten spritzte, der Krebse in den Bächen und des Brotkantens, an dem er nagte. Vor allem aber freute er sich auf die Revolution, die auch dem Fortschritt dienen sollte, denn in Hessen gab es noch keine Eisenbahn.

Er hatte noch an keiner Revolution teilgenommen, aber alle sprachen davon. Sein Vater, Elias Wurz, ein Bäckermeister, der für die Jakobiner schwärmte, hätte von Dux, dem Schmied, am liebsten eine kleine Guillotine anfertigen lassen, um sie schon mal auf dem Friedrichsplatz aufzustellen, dort, wo heute das Kaufhaus Bilka steht.

Elias Wurz hatte auch den Plan, einen Kanal von Kassel bis an die Weser zu errichten und mit einer Fregatte, die von hundert Delphinen gezogen wurde, den Sklavenhandel zwischen Westafrika und den USA zu unterbinden.

Die andernen schüttelten besorgt die Köpfe. "Nur kein Blut vergießen." Wurz dagegen: "Blut muß fließen, meine Süßen. Was hilft uns die Teilung der Gewalten, und es bleibt alles beim alten."

Auch über ihre Ziele waren die Aufständischen sich nicht ganz einig. Gottlieb Rathsack, der in Hofacker die Poststation mit Hotel, Gaststätte und zahllosen Pferdeställen besaß, lobte den Kurfürsten, weil er in seinem Land keine Eisenbahn zulassen wollte. "Eisenbahnen", so erläuterte er, "bedeuten Fabriken, Proletarier und Arbeiterassoziationen", die sich schließlich zu einer landstörzerischen Pestseuche ausweiten würden.

Baron von Horwitz, der allerdings nicht mitlief, sondern mit der Chaise nachkommen wollte, sympathisierte dagegen mit den Gegnern Wilhelms II., weil der Kurfürscht den Ständen eine Verfassung versprochen hatte, nach der der Adel in Zukunft Steuern bezahlen sollte.

So stolperte man über die Dörfer, und jede Delegation wurde mit Gejohle in ihrer Heimatsprache begrüßt. In Calden, wo ein besonders abartiges Idiom herrscht, riefen die Wanderer: "Kullische Woadermannschafft angetrudden, lurzen Pauten forutgesatt." Stroessel repetierte den Ruf mit Emphase, als wäre er selber dabeigewesen.

Vor Wilhelmstal, einem idyllischen Lust- und Jagdschloß, lagerten Soldaten vom Gardedukorps in Hosenträgern und Fußlappen. Sie hatten in der Nacht am offenen Feuer ein Wildschwein gebraten und warfen den Revoluzzern ein paar triefende Speckschwarten und Knochen zu, aber ihre Hauptaufgabe war es, die kurfürstliche Matratze, eine gewisse Frau Ortlöpp, zu beschützen, die der Souverän für die Dauer des Schlamassels in den Wald geschickt hatte.

Die Aufständischen wischten sich mit den Ärmeln das Fett von der Backen, strichen die Messer an den Hosen ab, ließen den Schnapskrug rumgehen und brachten ein paar Hochrufe aus:

"Mir han der Kurfürscht gerne, die Ortlöpp an die Laterne!"

Die Liebe zur rechtmäßigen Landesmutter, eine preußische Prinzessin, die vor Schande samt Kindern nach Bonn geflüchtet war, und die Abscheu vor den empörenden Sexskandalen des Herrscherhauses - auch der Kurprinz hatte bereits eine Mätresse, eine geschiedene Frau Lehmann, die er nach seinem Amtsantritt zur Gräfin machte -, einigte die sozialen Klassen und Parteien, die Deutschnationalen und die Menschenrechtler, den reichen Clan der Henschels, die endlich Eisenbahnen bauen und deshalb den Landesherrn abservieren wollten, und die Gilde der Überlandspediteure, die um ihre Geschäfte bangten, da sie nicht wußten, ob der Kurprinz dem Bau nicht doch zustimmen würde, sobald sein Vater sich nach Hanau zurückgezogen hatte.

Sogar die Preußen machten sich Hoffnung, zwecks Rettung der Ehre ihrer Prinzessin den Zwergstaat klammheimlich zu vereinnahmen, vielleicht mithilfe eines minderjährigen Prinzen, und intrigierten mit.

Gegen neun Uhr, nach vier Stunden Fußweg meistens querfeldein, lag endlich das Städtchen mit seinen Kirchen und Prachtbauten, dem Herkules und dem Schloß Wilhelmshöhe, inmitten bewaldeter Höhen vor den empörten Bürgern des Kurfürstentums. Am unteren Ende der Königstraße, nahe dem holländischen Tore, sahen sie eine Baustelle liegen, die von Gendarmen bewacht wurde. Hier errichtete die jüdische Gemeinde ihre neue, prächtige Synagoge, die aber erst 1839, nach der endgültigen Gleichstellung, eingeweiht wurde.

"Die Juden sind unser Unglück!" meckerte Wenzel Habermas, der Küster von Hofacker. "Wenn der Kurfürst verspricht, dieses Ungeziefer zu vertreiben, werde ich Royalist."

"Die Juden sind harmlos", beruhigte ihn der alte Wurz. "Unsere christlichen Bankiers und Fabrikanten sind zehnmal infamer als der gerissenste Israelit."

Dann durfte der kleine Wurz zum ersten Mal den schönen Friedrichsplatz bewundern, an drei Seiten mit Lindenalleen umkränzt. Rechts eine Reihe der freundlichsten Häuser, links das wienerisch wirkende Winterpalais, daneben das klassizistische Museum Friderizianum mit seinem herrlichen Frontispiz, in der Mitte das Standbild Friedrichs II. aus karrarischem Marmor in römischem Kostüme.

Zum Fuldatal hin geht der Blick (heute nicht mehr, heute steht da ein läppisches Kunstwerk) durch das filigrante Friedrichstor hinüber zu den Hängen des Kaufunger Waldes, und nur die Wolkensäulen, die sich über den Steilhang erheben, verraten den Niedergang der bukolischen Schäfferzeiten im Aue-Park und den Aufstieg einer neuen Ära der Fabrikschornsteine, aber davon weiß der kleine Louis noch nichts.

Bang blickte er auf die vielen tausend Menschen, aus allen Landesteilen und Ständen, aus Hanau und Marburg, Schmalkalden und Schaumburg, die sich auf dem Platz versammelt haben, um für Freiheit und Menschenrechte ihr Leben zu lassen - ihnen gegenüber die Prachtkerle vom Gardedukorps mit aufgepflanztem Bajonett vor der Balustrade.

Alles schweiget, bereit zum Sturm auf das Winterpalais. In vorderster Reihe stehen an die hundert bleiche, jedoch kräftige Bäckergesellen. Sie haben das Recht des ersten Angriffs, da es sich bei der Revolution von 1830 um einen der beliebten Brotaufstände handelt. Im Land herrscht Hungersnot, der Schwarzmarkt blüht und die Bäckereien sind leer. Vor sich haben die Angreifer Halbzentnersäcke voll Sand, um sie auf die Garde zu schleudern. Alles wartet auf das Zeichen - einen Kanonenschuß vom Flaggschiff der kurfürstlichen Kriegsmarine unten auf der Fulda.

Da bewegt sich etwas hinter dem Mittelfenster, Lakaien öffnen die Flügel und der Kurfürst tritt auf den Balkon, gefolgt vom Kurprinz. Ruhig verweilt die Majestät, prüfend geht ihr Blick über die aufständische Menge. Er hebt die behandschuhte Hand und dann, was geschieht? Er scheint zu winken. Er krümmt den Zeigefinger, krümmt ihn mehrfach, und mit jedem Wackeln des Fingers wird den Menschen klarer, was der Fürst von ihnen will.

Er will mit ihnen reden. Ja, er will keine Gewalt, kein Blutvergießen, er bittet seine Delegation der Revolutionäre ins Marmorzimmer, zum Runden Tisch, zum großen Krisenstab, zum Bündnis für Arbeit, was auch immer.

Kann man da nein sagen? Da kann man nicht nein sagen! Eine Delegation wird gebildet, bestehend aus Fabrikanten, Professoren und angesehenen Geschäftsleuten, natürlich unter Anführung eines Bäckermeisters, der den Auftrag erhält, mit einem Tüchlein zu winken, je nachdem, wie die Audienz ausgeht. Winken mit links bedeutet angreifen, Winken mit rechts heißt alle mal jubeln.

Die Chroniken berichten: Mit fester Stimme habe der Bäckermeister die Not des Volkes geschildert, mit tiefer Ergriffenheit der Fürscht gelauscht und schließlich selber das Wort ergriffen. Er habe ja nicht gewußt, wie sehr sein geliebtes Volk leiden müsse. Nun sei es Zeit, Abhilfe zu schaffen. Noch heute werde eine Kommission mit der Ausarbeitung der seit langem geforderten Verfassung beginnen.

Es war Mitternacht, als Stroessels Urgroßvater nach acht Stunden Fußweg und einer Revolution wieder daheim in Hofacker zur Standuhr schaute. Auch Stroessel zog deshalb die Taschenuhr raus und betrachtete sie nachdenklich. Die Flasche war leer und mein Kopf drehte sich. "Die gute, alte Zwiebel", sagte er. "Habe ich Ihnen erzählt, daß sie mir mal das Leben gerettet hat? Ich war drauf und dran, mich umzubringen. Sie hat mich getröstet in schwerer Zeit."

Ich nickte schwer. Er hatte. Am Abendgymnasium Kassel, etwa 1951, gleich in der ersten Stunde, die wir bei ihm hatten. Ein Sohn des kleinen Louis hatte die Uhr 1869 auf dem Gründungsparteitag der SPD aus Bebels Hand erhalten. Im Zuchthaus der Nazis hatte Stroessel sie immer dabei gehabt, gut versteckt. Einmal am Tag hatte er sich den Finger in den Analkanal gebohrt, das Schmuckstück hervorgeholt und es betrachtet, als tröstliches Menetekel jener langen Reihe von Niederlagen, die die Geschichte des Fortschritts seit jeher begleitet haben.

Irgendwie schienen alle in Stroessels Familie mal einen Finger der Geschichte im Hintern gehabt zu haben.

Nächste Woche: "Die Liebenden und die Toten"