Reinerio Arce Valent'n vom Ev. Studienzentrum in Havanna

»Kuba wird religiöser«

Wie sieht die Lage der evangelischen Kirche auf Kuba heute aus?

Immer mehr Leute gehen in die Kirche oder nehmen an unseren Veranstaltungen teil. Seit 1989 ist das überall auf Kuba festzustellen, auch bei der katholischen Kirche und den afro-kubanischen Religionsgemeinschaften, denen die meisten Kubaner anhängen. Die christlichen Religionen sind trotz der langjährigen katholischen Tradition Kubas und dem gegenwärtigen Aufschwung Minderheitsreligionen. Es gibt neue Gotteshäuser, alte werden wiederhergerichtet und die Zahl der kirchlichen Trauungen und Taufen steigt kontinuierlich. Das kubanische Volk ist religiöser geworden und sucht momentan geistlichen Beistand.

Wie gut sind die Beziehungen der evangelischen Kirche zur Regierung?

Historisch gab es unterschiedliche Phasen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Direkt nach der Revolution waren die Beziehungen sehr gut, dann folgte eine gespannte Phase. Momentan sind die Beziehungen wieder sehr gut. Von seiten des Staates gibt es seit Ende der achtziger Jahre mehr Verständnis für kirchliche Belange. Die religiöse Diskriminierung wurde weitgehend beseitigt. Mit dem Staat gibt es einen stetigen Dialog und in einigen Bereichen eine enge Zusammenarbeit. Zahlreiche Projekte zur Verbesserung der Versorgung haben wir gemeinsam mit der Regierung durchgeführt.

Ist der Ende Januar anstehende Papstbesuch ein weiterer Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat?

Ja, allerdings berührt uns das nicht direkt. Aber für die katholische Kirche ist das ein Meilenstein. Auch für uns wird diese Klimaverbesserung hilfreich sein. Ohnehin haben sich unsere Beziehungen zur katholischen Kirche intensiviert, besonders im Rahmen der Vorbereitung des Papstbesuches.

Unter dem Dach der Kirche sollen auch Treffen der politischen Opposition stattfinden.

Es mag sein, daß oppositionelle Gruppen die Kirche für ihre Treffen genutzt haben, aber die evangelische Kirche ist kein Hort der Opposition. Die früheren Spannungen hatten ihre Ursache in ideologischen Vorbehalten. Die Regierung nahm an, daß die Kirche ein Schmelztiegel der Opposition sein könnte. Diese Position gehört jedoch der Vergangenheit an.

Welche Position vertritt die evangelische Kirche hinsichtlich des US-Embargos?

Vieles wäre ohne die Blockade leichter. Niemand hat das Recht, ein Volk als Mittel zu mißbrauchen, um einen politischen Wechsel herbeizuführen. Die Amerikaner versuchen die kubanische Regierung zu zwingen, ihre Politik aufzugeben, wobei dieser Konflikt auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird, und genau das verurteilen die evangelische und die katholische Kirche. Die evangelische Kirche Kubas plädiert gemeinsam mit dem evangelischen Kirchenrat der USA für den Dialog und für die Aufhebung der Blockade, da sind wir uns seit Jahren mit allen anderen christlichen Kirchen einig.

Der Höhepunkt der ökonomischen Krise scheint vorüber, allerdings gibt es zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, die die Reformen der Regierung mit sich gebracht haben.

Der Zufluß von Auslandskapital, Joint-Ventures und die Dollarisierung der Gesellschaft haben Wachstum hervorgebracht, doch ist dies ambivalent. Zwar wird versucht, die Errungenschaften der Revolution zu erhalten, aber die Ausdifferenzierung in unterschiedliche Einkommensschichten hat begonnen. Es gibt stärkere Verteilungskämpfe, mehr Egoismus und Kriminalität. Die evangelische Kirche will gemeinsam mit dem Staat die Errungenschaften - denken Sie nur an die Bereiche Gesundheit und Bildung - erhalten.

Leider hat sich bei einigen Jugendlichen ein Bild des Kapitalismus durchgesetzt, das wenig mit dessen Realität zu tun hat, aber viel mit Erfahrungen, die Jugendliche mit Touristen machen konnten, die sich hier alles leisten können.