Der Pfeiler war’s

Nach den Riots im polnischen Slupsk fordert die Linke mehr Arbeit und die Rechte mehr Autorität

Die Bilder gleichen sich: Jugendliche werfen Steine und Flaschen auf Polizeistationen, sie errichten Barrikaden und liefern sich auf der Straße Gefechte mit martialisch ausgerüsteten Polizeieinheiten. Diese schießen Tränengaspatronen in die Menge und prügeln nieder, was sich bewegt. Doch nicht in den Banlieus von Strasbourg findet dieses Mal die Revolte statt, sondern in Slupsk, einer Kleinstadt im Norden Polens. Auch der Anlaß für die Riots ist gleich. Der Tod eines Jugendlichen.

Nach einem Basketballspiel am 10. Januar in Slupsk hatte die örtliche Polizei versucht, Jugendliche, die sich auf dem Heimweg befanden und unterwegs ein bißchen feierten, von der Straße zu entfernen. In bester polnischer Polizeitradition ging man äußerst brutal gegen die Basketballfans vor. Der 13jährige Schüler Przemek Czaja wurde dabei, wie Augenzeugen berichteten, von einem Polizisten totgeschlagen. Eine zwei Tage später durchgeführte gerichtsmedizinische Untersuchung kam ebenfalls zu diesem Ergebnis: Als Todesursache wurde im Obduktionsbericht Gehirnbluten infolge eines Schlages mit einem Polizei-Schlagstock festgestellt. Gegenüber der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza hatten zuvor Augenzeugen angegeben, Czaja sei von zwei Schlagstockhieben eines Polizisten an Kopf und Hals getroffen worden und umgehend zusammengebrochen. Die Polizei hingegen vermutet die Todesursache darin, daß der 13jährige mit dem Kopf gegen den Pfeiler einer Straßenbahnhaltestelle gelaufen sei. Die Frage, warum Czaja von Rettungssanitätern rund zehn Meter von dem Pfeiler entfernt aufgefunden wurde, vermochte ein Polizeisprecher nicht zu beantworten.

Nur einen Tag nach Czajas Tod versammelten sich mehrere hundert Jugendliche vor der Slupsker Polizeiwache. Sie skandierten "Gestapo" und "Tod für den Tod", woraufhin die Polizei erneut mit Schlagstöcken und Tränengas gegen sie vorging. Als Antwort flogen Steine und Flaschen. Bis ein Uhr nachts breiteten sich die Auseinandersetzungen über die ganze Stadt aus. Bilanz des ersten Tages: 40 Verletzte, 100 Verhaftete, 20 zerstörte Streifenwagen. Auch an den folgenden Tagen ging's weiter: Bis zu 1 000 Jugendliche lieferten sich neue Straßenschlachten mit der Polizei und beschädigten das Wohnhaus des inzwischen verhafteteten Polizisten, der Czaja geschlagen hatte. Am Mittwoch, dem Tag der Beerdigung Czajas, fanden sich etwa 2 000 Jugendliche in Slupsk ein. Nach dem Begräbnis versuchten Polizeieinheiten, wie ein Sprecher des neugebildeten Krisenstabes äußerte, "die Jugendlichen zu zerstreuen". Anders gesagt, sie mißhandelten jeden, den sie aufgreifen konnten. Die Gegenseite ließ ihrem Haß auf die "Mörder und Faschisten", so die Sprechchöre auf zahlreichen Demonstrationen, freien Lauf. Bis zum Donnerstagmorgen wurden Angriffe auf die Polizei gestartet oder öffentliche Gebäude mit Steinwürfen eingedeckt.

Auch die Reaktionen der staatlichen und staatstragenden Institutionen gleichen denen in Frankreich: Während Premierminister Jerzy Buzek über den Rundfunk zur Ruhe aufrief, gab der Polizeisprecher von Slupsk Mitte vergangener Woche den Medien die Schuld "an der Eskalation der Gewalt". Ein Pressesprecher des Hauptkommissariats in Warschau legte nach und sprach den Polizisten Dariusz W. "von jeder Schuld" frei. Daß die Staatsanwaltschaft dennoch gegen ihn wegen "fahrlässiger Tötung" ermittele, beweise nur die Rechtstaatlichkeit des Landes.

Erklärungen haben auch das oppositionelle Demokratische Linksbündnis (SLD) und die katholische Kirche parat: Macht die SLD die hohe Jugendarbeitslosigkeit in der Region Slupsk - sie liegt offiziell bei 24 Prozent - für die Randale verantwortlich, sieht der Klerus den "allgemeinen Werteverfall" und die "Auflösung der Autorität in Familien und Institutionen" am Werk. Daher, so ein Vertreter des Episkopats, stehe die Kirche geschlossen hinter der staatlichen Autorität der Polizei.

Dabei hat die polnische Polizei diese Rückendeckung nicht nötig. Sie wird sowohl von der liberal-konservativen Regierung als auch vom sozial-liberalen Staatspräsidenten Alexander Kwasniewski umsorgt und gehätschelt. Dieser hatte erst vor drei Wochen einen Regierungsentwurf, demzufolge die Renten von Berufssoldaten und Polizisten nur noch so schnell steigen sollten wie die von zivilen Beamten, per Veto scheitern lassen. Begründung: Berufssoldaten und Polizisten seien "einen gewissen Lebensstandard gewöhnt", den man nicht einfach absenken dürfe. Zudem würden Polizisten härter arbeiten als beispielsweise Ärzte oder Krankenschwestern, hieß es Ende Dezember aus dem Präsidialamt.

Seit Beginn der achtziger Jahre ist die polnische Polizei bis in die jeweiligen lokalen Ebenen zwecks umfassender Aufstandsprophylaxe darauf gedrillt worden, bei Auseinandersetzungen erst zu prügeln und dann zu fragen. Dienten bis 1989 Polizeieinheiten an der Seite der Armee und des Inlandsgeheimdienstes als Instrument zur Niederschlagung von Streiks und Demonstrationen der Solidarnosc-Basisorganisationen, sorgte ein im Juni 1990 erlassenes neues Polizeigesetz für Verstärkung: Eine "Qualifizierung" genannte Versetzung zahlreicher Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes in den Polizeidienst war die Folge. Die neuen Machthaber - allen voran die Solidarnosc-Funktionäre um Lech Walesa - wollten somit gleichzeitig den neuen Inlandsgeheimdienst (Amt zum Schutze des Staates, UOP) mit eigenen Leuten besetzen und die reguläre Polizei in Zeiten einer wirtschaftlichen Schock-Therapie mit "aufstandserfahrenen Sicherheitskräften" verstärken.