Die Logik des Nonsense

Zehn Sätze über die Möglichkeit des Widerspruchs - Aus Anlaß des 100. Todestages von Lewis Carroll und des 110. Todestages von Edward Lear.

(1) Der Nonsense ist kein Unsinn.

(2) Der Unsinn ist ein Wort und ein Konzept. (2.1) Wörter und Konzepte sind, soweit sie verstanden werden können, sinnvoll. (2.2) Wörter und Konzepte werden von uns gemacht.

(3) Das Konzept Unsinn ist eine vernünftige Reaktion auf eine unvernünftige Welt. (3.1.) Die edle Weise, sich auf das Konzept Unsinn zu beziehen, ist die Valérys, der die meisten Fragen der Philosophie als schlecht gestellte zurückwies. ("La plupart des problèmes de la philosophie sont des non-sens.") (3.2.) Die unedle Weise, sich auf das Konzept Unsinn zu beziehen, ist die Richard A. Hilberts, der lehrte, man müsse Widersprüche abweisen, um eine Welt als zusammenhängende zu erhalten. (3.2.1) Hilbert legte seinen Studenten sieben unterschiedliche sinnvolle Texte vor und stellte die Aufgabe: "Finde heraus, was geschah!" Die Studenten reagierten mit dem Hinweis, daß das Unsinn sei. (3.2.2) Unsinnig ist in Hilberts Auffassung eine Welt, die Widersprüche aufweist. Der Zusammenhang, der zwischen den Texten hätte hergestellt werden können, wäre auch als Widerspruchsrelation darstellbar gewesen. (3.2.3) Die Zurückweisung einer Aufgabe, die zu Widersprüchen führt, also seine Verwendung des Konzepts Unsinn, erscheint Hilbert als vernünftig und vorteilhaft. (3.2.4) Hilbert kennt nicht die Literatur. (3.2.4.1) "There was an Old Man with a beard, / Who said, 'It is just as I feared! -/ Two Owls and a Hen, four Larks and a Wren, / Have all built their nests in my beard!'" (Lear) Finde heraus, was geschah! (3.2.4.2) Die Reihung Element plus Element plus Element... (hier: zwei Eulen, ein Huhn, vier Lerchen, ein Zaunkönig) und die zu Widersprüchen führende Aufforderung, diese Elemente zu verknüpfen, bilden das Verfahren der Nonsense-Literatur (cf. Sewell).

(4) Der Nonsense ist ein Land, in dem es sich leben läßt. (4.1) Das Nonsense-Land wird von zwei Fürsten regiert: Edward Lear und Lewis Carroll. (4.1.1) Edward Lears Nonsense-Gebiet besteht aus 212 Limerick-Orten. (4.1.2) Lewis Carrolls Nonsense-Gebiet besteht u.a. aus zwei Wunderländern, den Alice-Romanen. (4.2) Im Nonsense-Land leben nicht Personen, sondern Widersprüche.

(5) Im Nonsense-Land herrscht eine widerspruchsvolle Ordnung. (5.1) Elizabeth Sewell sagt, es gebe drei Gruppen von Reisenden im Nonsense-Land. (5.1.1) Die erste Gruppe sieht im Nonsense bloß "Unsinn" (s. 3.2). (5.1.2) Die zweite Gruppe sieht im Nonsense einen permanenten Bruch der Ordnung. (5.1.2.1) Gilles Deleuze etwa hält den Nonsense für ein Spiel ohne Regeln. (5.1.2.2) Elisabeth Lenk etwa hält den Nonsense für eine Traumform, in der alle Ordnungen zergehen. (5.1.3) Die dritte Gruppe sieht im Nonsense eine Struktur. (5.2) Der Nonsense ist demnach eine transparente Struktur, ein rationales Spiel, in dem Widersprüche deutlich werden. Er ist eine Ordnung, in der A und Non-A koexistieren. (5.2.1) In der Folge wird nur der dritten Auffassung Rechnung getragen.

(6) Widerspruch und Spiel fordern beide Klarheit. (6.1) Wenn A und Non-A nicht klar genug bestimmt sind, können sie nicht konfligieren. (6.2) Wenn in einem Spiel Regeln, Objekte, Felder nicht klar bestimmt sind, ist es nicht operabel. (6.2.1) Ein Spiel ist die "keinem nützlichen Zweck dienliche aktive Manipulation eines konkreten oder geistigen Objekts oder einer Klasse von konkreten oder geistigen Objekten, innerhalb eines abgegrenzten Raum- und Zeitfeldes, festen Regeln folgend, mit dem Ziel, ein gefordertes Resultat zu produzieren, trotz der Gegnerschaft des Zufalls und/oder der anderer Gegner" (Sewell). (6.2.2) "Ich frage mich, was das wohl für Regeln sein mögen." (Alice) (6.2.3) Das Nonsense-Spiel weicht in zwei Punkten von Sewells Spiel-Definition ab. (6.2.3.1) Der Nonsense verfährt nach Regeln, die aber häufig durch korrelierende Regeln ersetzt werden. (6.2.3.1.1) "Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und - 'make up the rules as we go along'?" (Wittgenstein) (6.2.3.2) Der Nonsense hat kein Ziel, aber einen Zweck: Er soll die Strukturen des Denkens offenlegen.

(7) Das Nonsense-Land ist auf Sprache gebaut. (7.1) "O, W! X! Y! Z! / We shall presently all be dead" (Lear) (7.2) "'Ich lieb meinen Liebsten mit H', begann Alice unwillkürlich, "denn er ist heiter. Ich haß meinen Liebsten mit H, denn er ist häßlich. Ich speis ihn mit - mit - mit Honigsemmeln und Heu. Er heißt Hasa und wohnt - ' 'Er wohnt auf dem Hügel', bemerkte der König schlicht, ohne zu ahnen, daß er bei einem Spiel mitmachte." (Carroll)

(8) Die Nonsense-Sprache erzeugt Widersprüche. (8.1) Der bevorzugte Widerspruch des Nonsense ist der der Selbstbezüglichkeit oder Zirkularität, genannt: Paradox. (8.1.1) "'Der Name des Liedes heißt 'Heringsköpfe'', sagte der Ritter. 'Ach! Das ist wirklich sein Name?' fragte Alice, damit es nicht so aussähe, als wäre es ihr gleichgültig. 'Nein, du hast mich falsch verstanden', sagt der Ritter etwas unmutig. 'So heißt sein Name nur. Der Name selbst ist 'Der ururalte Mann'.' 'Dann hätte ich also sagen sollen: 'So heißt das Lied also?'' verbesserte sich Alice. 'Aber nein doch, das ist wieder etwas anderes. Das Lied heißt 'Trachten und Streben', aber freilich heißt es nur so.' 'Ja, aber welches Lied ist es denn dann?' fragte Alice, die sich nun gar nicht mehr auskannte. 'Das wollte ich eben sagen', erwiderte der Ritter. 'Es ist das Lied 'Hoch droben auf der Pforten'; und die Melodie dazu habe ich selbst erfunden.'" (Carroll). (8.1.1.1) Der Name-des-Namens gehört in den Bereich dessen, was Alfred Tarski eine Metasprache nannte. (8.1.1.2) Tarski entwarf eine Hierarchie von Sprachen, um das Paradoxon der Selbstbezüglichkeit aufzulösen. (8.1.1.3) Carroll benutzt die Hierarchie von Namen, um eine Paradoxie zu erzeugen. Um welches Lied geht es? Das Lied ist nicht "Hoch droben auf der Pforten", denn das ist nur ein weiterer Name, der auch ein Name-des-Namens sein könnte. (cf. Carroll/ Gardner) (8.2) Das Paradox ist eine Konfusion der hierarchischen Ebenen der Logik, es ist die Botschaft, die ihre eigene Meta-Botschaft darstellt. (8.2.1) Yves Barel weist darauf hin, daß wir, wenn wir denken, diese Paradoxie wiederherstellen: "Etwas in uns produziert das Undenkbare, begeht in jedem Augenblick das logisch-mathematische Paradox: Die Botschaft, die ihren eigenen Sinn liefert, die Botschaft, die ihre Meta-Botschaft ist (...)" (8.3) Der Ritter beginnt zu singen, um den logischen Regreß zu stoppen, er zeigt auf das Bezeichnete. (cf. Wittgenstein)

(9) Das Denken lebt von Widersprüchen. (9.1) Das Denken ist der dialektischen Logik näher als der formalen, weil es sich von Widersprüchen nährt. (cf. Piaget) (9.2) "Nos contradictions font la substance de notre activité d'esprit." (Valéry)

(10) Der Nonsense evoziert die zentrale Struktur unseres Denkens, den Widerspruch.

Hinweise:

Yves Barel: Le Paradoxe et le système. Essai sur le fantastique social. Grenoble 1979

-Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Übers. v. Christian Enzensberger. Frankfurt/M. 1973

-Lewis Carroll: Alice hinter den Spiegeln. Übers. v. Christian Enzensberger. Frankfurt/M. 1980

-Lewis Carroll / Martin Gardner: The Annotated Alice. Harmondsworth 1985

-Gilles Deleuze: Logique du sens. Paris 1969

-Lisa Ede: The Nonsense Literature of Edward Lear and Lewis Carroll. Univ. Ohio 1975

-Richard A. Hilbert: Approaching Reason's Edge: "Nonsense" as the Final Solution to the Problems of Meaning. Sociological Inquiry, 47(1) 1977

-Edward Lear: The Complete Nonsense. London, Boston 1979

-Elisabeth Lenk: Die unbewußte Gesellschaft. München 1983

-Jean Piaget: Recherches sur la contradiction. Paris 1974

-Elizabeth Sewell: The Field of Nonsense. London 1952

-Alfred Tarski: Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik (1944). In: G. Skirbekk, Hg.: Wahrheitstheorien. Frankfurt/M. 1977

-Wim Tigges: An Anatomy of Literary Nonsense. Amsterdam 1988

-Paul Valéry: Cahiers. Hg. v. Judith Robinson-Valéry. Paris 1973/74

-Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Frankfurt/M. 1984