Verbrüderung mit Toten

"Nathan der Weise" in Deutschland nach dem Kriege: Eine Lebenslüge und ihre Folgen.

Zwölf Jahre lang hatten die Deutschen auf ihn verzichtet, und als man endlich hätte annehmen müssen, er weile nicht mehr unter den Lebenden, kehrte er auf die Bühne zurück, vitaler als je zuvor: der ewige Jude, der Händler und Philosoph, der Verfolgte und der Überlebende - Nathan der Weise.

Die Taschen voller Geld, das er bei seinen Schuldnern eingezogen hat, war ihm schon auf dem Heimweg die Kunde überbracht worden, sein Haus sei abgebrannt. - Keine Neuigkeit, die diesen Nathan erschüttert, wenn nur sein einziges Kind, die angenommene Tochter Recha, mit dem Leben davongekommen ist.

Geradezu unglaubliche Geduld hatte er bereits damals bewiesen, als die Christen seine Frau und seine sieben Söhne verbrannt hatten. Nur kurze Zeit haderte er mit Gott und seinem Schicksal, schwor den Christen unversöhnlichen Haß - und war mit Gott, Schicksal und den Christen doch gleich wieder versöhnt, als der Klosterbruder ihm ein verwaistes Kindlein in die Hände drückte.

Nach allem, was geschehen war, nach Vertreibung und Vernichtung, konnten sich die Deutschen wohl keinen besseren Juden vorstellen als diesen: Einen, der geduldig die antisemitischen Attacken seiner Zeitgenossen pariert, einen, der den Mördern den Mord an seinen Verwandten nicht übel nimmt, einen, der am Ende gar den einzigen Besitz herschenkt, an dem ihm gelegen ist: seine Tochter. Einen schließlich, der trotz seiner unzweifelhaften intellektuellen, moralischen und ökonomischen Überlegenheit doch stets den kürzeren zieht.

Dieser Nathan war es, der nach Ende des Krieges auf den deutschen Bühnen aller Zonen Toleranz verkündete. Bereits für die Spielzeit 1945/46 lassen sich 26 "Nathan"-Inszenierungen nachweisen, 1946/47 waren es weitere sechs, von Ende 1947 bis Anfang 1951 zählen wir 21 neue Einstudierungen, und der Trend hielt bis Ende der sechziger Jahre an. Allein der paradigmatische Nathan der Zeit, Ernst Deutsch, spielte die Rolle über elf Jahre lang in mehr als tausend Aufführungen.

Über eine Inszenierung des "Nathan" im Karmeliterkloster, Frankfurt/M., berichtet am 1.7. 1947 Walther Pollatschek in der Frankfurter Rundschau, er habe die "gar nicht rührende erste Begegnung mit dem Tempelherren ebenso hinreißend" dargestellt gesehen wie den "qualvollen Ausbruch in der Pogrom-Erinnerung (jener Szene, die nach den zwölf Jahren zu gewaltiger Tragik emporwuchs). Ja, dies ist Nathan. Der Beifall wollte nicht enden. Er zeigte, daß man erkennt: Wir müssen hin zum wahren Deutschtum, das da heißt, sich vor allem anderen der Bruderschaft aller verpflichtet fühlen, die Menschenantlitz tragen. Sich dem Geiste verpflichtet fühlen, der frei durch alle Rassen und Völker und Weltanschauungen wehen will. Wenn dieses Deutschtum Lessings erfüllt sein will, dann, aber auch erst dann, brauchen wir nicht mehr gebeugt an Konzentrationslager und Judenstern zu denken."

Den kuriosen Einfall, es sei das Gebot der Stunde, nach den gerade überstandenen Exzessen des Deutschtums ausgerechnet zum Deutschtum zurückzukehren - zu einem "wahren" allerdings, das es einem ersparen würde, "gebeugt" an die Vernichtung der europäischen Juden zu denken -, hatten nicht nur die Patrioten von der Frankfurter Rundschau. Bereits in den Besprechungen eines der ersten Nachkriegs-"Nathans" überhaupt, 1945 im Deutschen Theater - in der Hauptrolle Paul Wegener, der in mehreren Propagandafilmen der Nazis, zuletzt in dem pompösen Durchhalte-Stück "Kolberg" (1944/45), agiert hatte - stellten insbesondere die ostdeutschen Rezensenten den Willen, eine neue deutsche Tradition zu bilden, in den Vordergrund. Der spätere Lessing-Herausgeber Paul Rilla beginnt seine Rezension in der Berliner Zeitung (9.9. 1945) mit den Worten: "Wenn etwas für die undeutsche und antideutsche Haltung des Nationalsozialismus charakteristisch war, so war es der barbarische Gegensatz seiner 'Kulturpolitik' zur Tradition unserer klassischen Dichtung und Philosophie. (Ö) Das Jahrhundert Lessings, Herders und Kants, das Jahrhundert Schillers und Goethes: Niemals ist die historische Wahrheit so in ihr Gegenteil umgelogen worden wie in der frechen Berufung des Nationalsozialismus gerade auf diese nationale Tradition."

Aber ist das die historische Wahrheit - Gotthold Ephraim Lessing, der erzdeutsche Dichter, der Stifter einer nationalen Tradition? Wußte man nicht mehr, wie es dem Schriftsteller und seinem Werk in Deutschland ergangen war? Hatte man, zum Beispiel, die Denunziation der von Lessing stark geprägten und von Christoph Friedrich Nicolai verlegten Literatur-Briefe vergessen?

Auf die Mitteilung Johann Heinrich Gottlob von Justis hin, Nicolai und "ein gewisser Jude, namens Moses", gebrauchten u.a. gegen den "erhabenen Verfasser der 'Îuvres diverses du philosophe de Sanssouci' die allerunverschämtesten Ausdrücke", ließ "Ihre Königliche Majestät", Friedrich II. von Preußen, den "Unfug" (v. Justi) sofort stoppen; die Literatur-Briefe durften nicht mehr erscheinen. Und Jahre später verbot Herzog Karl von Braunschweig dem Hofrat Lessing die weitere Veröffentlichung seiner Briefe gegen den Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Diese Zensur bewog den Schriftsteller bekanntlich, den Kampf auf dem Theater fortzuführen - er schrieb, 1778 in Wolfenbüttel, seinen "Nathan". An die Stelle der scharfen Polemik gegen Goeze, den orthodoxen Verteidiger der alten Religion, trat nun ein, wie Lessing selbst sagt, "rührendes Stück". Doch damit war die politisch-polemische Absicht keineswegs aufgegeben.

Lessings Hoffnung war es, seine Kritik finde, in das Drama gekleidet, ihren Weg in die Öffentlichkeit: "Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen; doch dawider sich öffentlich zu erklären, werden sie wohl bleibenlassen." (Lessing am 7. November 1778 an seinen Bruder Karl) Das taten sie nicht; noch in unserem Jahrhundert lassen sich empörte Stellungnahmen von Theologen wider den Freigeist Lessing finden. Anläßlich der Recklinghäuser "Nathan"-Inszenierung mit Ernst Deutsch schreibt 1954 der Katholische Beobachter: "Es bleibt aber bestehen, daß die Grundtendenzen von Lessings 'Nathan der Weise' den christlichen Kirchen vollkommen entgegengesetzt sind (Ö). Wenn man heute so gern vom Brückenbau spricht, Brücken zwischen Rassen, Religionen etc., dann ist mir unerfindlich, wie man diese Gegensätze im Grundsätzlichen übersehen kann. Sicherlich, ich kann und soll Verständnis haben für den Irrenden, aber den Irrtum darf ich nie durch eine erdachte Theorie verteidigen."

Aber warum wurde der Irrtum gerade von einem Juden begangen? Hätte Lessings Irrender, Nathan, auch ein Freimaurer, ein Muslim oder ein undogmatischer Christ sein können? Der häufig geäußerten Vermutung, mit dem Nathan habe Lessing seinen Freund Moses Mendelssohn porträtieren wollen, oder das Stück sei ihm durch ihre Freundschaft eingegeben worden, steht entgegen, daß Lessings Anteilnahme an der Situation der Juden in Deutschland älter war als seine Bekanntschaft mit dem jüdischen Philosophen. Bereits 1749 hatte er in seinem Lustspiel "Die Juden" einen gebildeten und reichen Juden zum Protagonisten gewählt, der, wie später Nathan, der ihm feindlichen Umgebung mit sanftem Witz begegnet und wie dieser am Ende doch der Verlierer bleibt.

Lessing wußte aus den Reaktionen auf sein Lustspiel, was es heißt, einen Juden zur Identifikationsfigur zu erheben. Allerdings wollte er nicht den Juden an sich Gerechtigkeit widerfahren lassen, sondern nur denjenigen, denen er zutraute, sich in einem bürgerlichen Sinne zu emanzipieren und zu assimilieren: den reichen und gebildeten. Dem Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis, der ihm vorgeworfen hatte, sein Reisender (aus den "Juden") sei eine allzu unwahrscheinliche Figur, weil ein so guter und edelmütiger Jude ihm, Michaelis, noch nie untergekommen sei, empfahl Lessing, die Bekanntschaft mit Juden zu suchen. - Doch mit gewissen auch wieder nicht: "Freilich muß man, dieses zu glauben, die Juden näher kennen, als aus dem lüderlichen Gesindel, welches auf den Jahrmärkten herumschweift." ("Über das Lustspiel Die Juden", 1754)

Und dennoch stand Lessing mit seiner - zumindest der jüdischen Oberschicht gegenüber - freundlichen Haltung einsam da. In seinem Jahrhundert war Antisemitismus auch unter aufgeklärten Zeitgenossen der Normalfall. In einer häufig zitierten Briefstelle berichtet Johann Georg Hamann über die Aufnahme des "Nathan" durch Immanuel Kant: "Vorige Woche habe ich die 10 ersten Bogen von Nathan gelesen und mich recht daran geweidet. Kant hat sie aus Berlin erhalten, der sie bloß als den 2 Theil der Juden beurtheilt und keinen Helden aus diesem Volk leiden kann."

Man wird diesen Antisemitismus von dem, wie Daniel Jonah Goldhagen sagt, "eliminatorischen" der Nazis und ihres Volkes unterscheiden müssen. Als aber mit der Nathan-Begeisterung nach 1945 die große Verbrüderung einsetzte, verdrängte man gern, daß fast alle, mit denen man sich nun auf einmal verbrüdern wollte, vertrieben oder tot waren. Daß sich in die bigotte Sentimentalität der Zeit doch wieder Antisemitismus mischte, sollte also nicht wundern. In seiner vielgelesenen Studie "Lessing. Sein und Leistung" von 1949 schreibt Otto Mann: "Deswegen ebnet dieser Nathan nirgendwo die Gipfel zum Nur-Menschlichen, sondern zieht alles Menschliche zum Göttlichen empor. In seiner Duldsamkeit ist er doch wie ein absoluter Anspruch. (Ö) Er macht den Menschen frei für den Weg zu Gott, vor dem auch auch die Toleranz wieder imaginär wird." In einer Fußnote erwähnt Mann ohne Widerspruch die Interpretation eines Kollegen: "Rötscher betont, daß Lessing auch einen Vertreter des religiös selbstgerechtesten Volkes gewählt haben mag, um den Sieg der Humanität über die härtesten Vorurteile eindringlich zu machen."

Man hat nicht den Eindruck, hier habe die Humanität bereits über die härtesten Vorurteile gesiegt. Mit seiner religiösen Verklärung des "Nathan" aber hatte Otto Mann die Aufführungspraxis in Westdeutschland bis Ende der Sechziger vorweggenommen. Der große Gegen-Entwurf, Erwin Piscators politische Inszenierung in Marburg, 1952, blieb folgenlos. Gegen die aus ihrer Sicht durchaus berechtigten Vorwürfe der Theologen hatte sich längst die Auffassung durchgesetzt, es handele sich bei "Nathan der Weise" um eine Art apokryphe Schrift der Bibel. Das legen die Umschreibungen für Lessings dramatisches Gedicht in den Kritiken der vierziger und fünfziger Jahre nahe: "Das Hohelied der Humanität" (Berliner Zeitung, 1945), "Jenes Hohelied der von keinerlei Vorurteilen beeinträchtigten, von keinen rassischen oder religiösen Banden gefesselten Menschlichkeit" (Tägliche Rundschau, 1945), "Das Hohelied der Toleranz" (Der Morgen, 1945), "dieses Hohelied der Versöhnlichkeit" (Heidelberger Tageblatt, 1951), das "Hohe Lied der Menschlichkeit" (Die Tat, 1951), "dieses Hohelied der Duldsamkeit, der Nachsicht und Güte, der reinen Menschlichkeit" (Der Mittag, 1952), "dieses Hohe Lied der Toleranz" (Saarbrücker Zeitung, 1953).

Die Zitat-Reihe ließe sich beliebig verlängern. Freilich kann man die "'Klerikalisierung' des öffentlichen Lebens" (Bettina Dessau) nicht auf Lessings Rechnung setzen. Für sein Stück gilt nach wie vor Franz Mehrings Wort: "Man muß sich hüten, den Wert dieses dramatischen Gedichts nach seiner heutigen Gefolgschaft abzuschätzen."