Steiniges Eden

Trouble an der Berliner Schaubühne. Michael Simon bringt ihn auf die Bühne: "Von einem der auszog das Fürchten zu lernen", ein Haus- und Schauermärchen

Schon längst, doch spätestens seit die "Schaubühne am Lehniner Platz" vor allem durch interne Querelen und dem spektakulären Rücktritt der Intendantin Andrea Breth vor knapp drei Monaten von sich reden gemacht hat, ist der künstlerische Stillstand offenkundig geworden. Schon verkündet Peter Stein, seine Bereitschaft, unter bestimmten Bedingungen (Gage? Verdienstkreuz? "Faust"?) dem Hause wieder zur Verfügung zu stehen. In das internationale Chefposten-Gerangel ist wieder mehr Bewegung gekommen, wobei bislang seltsamerweise niemand Claus Peymann an die "Schaubühne" locken will. Das einstige westdeutsche Renommiertheater ist gräßlich derangiert.

Michael Simon reagiert auf die verfahrene Situation nach allen Regeln der Kunst und läßt Theater spielen. Frei nach den Brüdern Grimm inszeniert er das "Märchen von einem der auszog das Fürchten zu lernen" als aktuellen Kommentar zum Stand der Dinge an der "Schaubühne". Ein Vater hat zwei Söhne, wovon der ältere, der Musterknabe, alles schafft, was er soll, während der jüngere faul in der Ecke hockt und lacht. Der Ältere hat höchstens Probleme, wenn er nachts über den Friedhof gehen muß. Das ist es, was der jüngere Bruder erlernen will: "Ach, wenn's mir nur gruselte." So zieht er beherzt in die weite Welt, um das Fürchten zu lernen.

Bei Simon quetscht er sich - zurechtgemacht wie eine Karikatur einer Christoph Marthaler-Figur - als letzter Zuschauer mitten in die erste Reihe. Die Haare sind angeklatscht, der Anzug glänzt stahlblau, eine Aktentasche wird an den Körper gepreßt (Kostüme: Anna Eiermann). Diese Ikone des unkündbar-ungerührten Angestellten (Robert Hunger-Bühler) läßt sich weder von dem auf der Bühne bedrohlich herumstolpernden Monster im Freddy Krueger-Look (Heinz Kloss) noch von den schmatzenden Geräuschen ringsherum stören. Manchmal erinnert die Toncollage von Stefan Pucher auch bloß an Musik im Kaufhauslift, aber als lautmalerische Ekelpackung kann sie stets beeindrucken. Dieser assoziative Sound erweitert die von Michael Simon entworfene Bühne, ein schlichter schwarzer Kasten mit wenig Zubehör und vielen Möglichkeiten, zu einem virtuellen Schreckenskabinett.

Gruselig im herkömmlichen Sinne ist in der Inszenierung kaum etwas, schaurig-schön und trashig hingegen manches. Dafür sorgt vor allem der schmierige Impresario (Sven Walser), ein surreales Double des "Big Eden"-Diskothekenchefs und Berufsplayboys Rolf Eden. Mit weit geöffnetem Rüschenhemd und bösem Glitzerjackett begrüßt er in einer ebenso schmierigen wie boshaften Fernsehshow die lieben "Freunde, Abonnenten, Zahnärzte" in der "Schaubühne 97", verteilt Autogrammkarten, fragt nach, ob denn nun Peter Stein oder Rolf Eden Intendant wird, und was dabei eigentlich der Unterscheid sei.

Er sorgt unaufhörlich für dufte Stimmung "hier bei uns am Kuuudamm", wozu vom Tonband Kühe muhen. Schlage die Massenmedien mit ihren eigenen Waffen und werde damit reich und berühmt - auch das hat man, von Schlingensief bis Lilo Wanders, schon dutzendfach ertragen. Aber bei Simon sieht es erstens besser aus und zweitens geht er ziemlich weit. Auch begnügt er sich nicht mit Zitaten, sondern treibt den Wahnsinn immer höher und weiter quer durch Schlager-, Porno-, Horror-Schrott. Und wenn der Conférencier mit einem seiner "deutschen (Herren)-Witze" anfängt, quetscht ihm der furchtlose Lehrling die Hand mit der Schraubzwinge zusammen, bis nur noch deutsches Wehgeschrei zu hören ist.

Als Star des Abends hat der Impresario ein Wesen namens "Elvira" (Christian Schwaan) eingeladen, das maßlos tuntig aus seinem schwarzen Anzug flötet. "Er ist homosexuell - gibt es Heterosexuelle heute hier im Saal? Mir persönlich macht es überhaupt nichts aus, denn ich bin sehr tolerant", röhrt der Conférencier, sabbert heftig und schleift das Mikrofon über den Boden. Elvira lächelt schüchtern und hebt verlegen die Schultern. Sechs Go-Go-Boys in glitzernden Bodies tanzen einen bescheuerten Fernsehballett-Schmarrn, huschen unter Leinentüchern als bekiffter Gespensterverein herum, zucken am Schluß gruselig-fröhlich durch Konfettihaufen.

Auf einer Videokamera sind stets neue Detailaufnahmen der Darsteller zu sehen, sowie psychedelischer Firlefanz, rosarote Herzen und eine Art Blume im Stil von Robert Mapplethorpe. Da hat der Ansager längst die Kontrolle über sein Ensemble verloren. Elvira läßt gekonnt die Hüllen fallen, der Lehrling tut's ihr nach. Erst vergewaltigen sie den Conférencier, dann leckt Elvira einem Zuschauer die Schuhe, während der, entgegen seinem sonstigen Phlegma mächtig aufgescheuchte Lehrling so lange im Kreis läuft, bis er umfällt. "Nur die LiebeÖ!", kreischt später der ramponierte Ansager, "Nur die LiebeÖ!", und verzichtet auf Vollständigkeit. Worauf ihn der genervte Antifürchter in die Unterbühne stopft.

Nein, er gruselt sich immer noch nicht. Das tut er erst ganz am Schluß, wenn alle Hindernisse überwunden sind und die Prinzessin geheiratet ist. Erschöpft und allein sitzt er auf einem Holzstuhl. Alles ist ruhig. Zum erstenmal betritt eine Frau die bisher exklusiv maskuline Geisterbahn. Das Kammermädchen (Caroline Peters) überschüttet den Helden mit einem Eimer Wasser (im Märchen sind noch zappelnde Fische darin). Da weiß er, sagt er dann, was Fürchten ist, und vielleicht liegt's ja wirklich an der unerwarteten Abkühlung.

Anders als in seiner dramaturgisch und szenisch hochartifiziellen "Woyzeck"-Inszenierung (Schaubühne, 1997) setzt Michael Simon diesmal hemmungslos auf schrille Effekte, auf grellbuntes, plakatives épater le bourgeois. Die schnell erzählte Geschichte wird in provokante Gesten und spekulative Sequenzen aufgelöst.

Rasend originell ist das nicht, aber der reinste Hohn auf die aalglatte Oberflächenästhetik und den wohltemperierten Neoklassizismus nicht nur an diesem Theater. Mögen die Szenenfolgen beliebig wirken, die karikierten Obsessionen zufällig erscheinen - selbst als amüsantes Provisorium hat das "Märchen"-Material eine radikale theatralische Wirkung. Im Grunde ist diese Inszenierung eine gelungene Frechheit: Angesichts von hausgemachten Trübnissen wie Borchardts "Hausbesuch" (Regie: Edith Clever), Rezas "Kunst" (Felix Prader) oder den "Hanjo-Variationen über ein N(tm)-Spiel" (Yoshi Oida) ist das "Märchen von einem der auszog das Fürchten zu lernen" am Ende immer noch die bessere Wahl.

Schaubühne Berlin: "Märchen von einem der auszog das Fürchten zu lernen". Regie: Michael Simon K: Anna Eiermann. Ch: Coral Lebleboojian. M: Stefan Pucher. D: Robert Hunger-Bühler, Heinz Kloss, Christian Schwaan, Sven Walser Schaubühne, Berlin, Kurfürstendamm 153. Weitere Vorstellungen: 28., 30. 11., 4., 5. und 13. 12., jeweils 23 Uhr; 2., 7. und 10. 12., jeweils 21 Uhr