Ein Fest der Toleranz

Mehr als 26 Flüchtlinge aus dem Maghreb ertranken bei dem Versuch, die Meerenge von Gibraltar zu überqueren

Sieben geborgene Leichen registrierte die Wasserpolizei der Guardia Civil in Cadiz Anfang vergangener Woche in nur einer Nacht. Sechs Überlebende wurden aus dem Wasser gefischt. Mehr als zwanzig weitere Männer, die sich auf demselben Boot befunden hatten, galten Anfang dieser Woche noch als "vermißt", der offizielle Euphemismus, auch wenn ihr Überleben als "praktisch unmöglich" ausgeschlossen wurde.

Spaniens Öffentlichkeit ist an derartige Meldungen gewöhnt; nur wenn die Zahl der Toten besonders hoch ist, kommen sie noch auf die Titelseiten: Mit wenig seetüchtigen kleinen Booten, sogenannten "pateras", versuchen Flüchtlinge aus Marokko und Algerien derzeit fast täglich, die Meerenge von Gibraltar zu überqueren. Zwischen dem spanischen Tarifa und Marrokko liegen Erste und Dritte Welt gerade einmal fünfzehn Kilometer auseinander. Zehntausend Dirham, umgerechnet fast 2 000 Mark, habe er der Schlepperorganisation bezahlt, der er sein Leben anvertraute, erzählte ein Überlebender der spanischen Tageszeitung El Pais, die von der bisher größten Tragödie des "Immigrationsphänomens" sprach.

Gerade in Ceuta und Melilla, Spaniens Überresten ehemaliger Kolonialherrlichkeit auf afrikanischem Festland, sammeln sich immer mehr Flüchtlinge aus den subsahaurischen Staaten, zunehmend Flüchtlinge aus Algerien, weniger aus Marokko. Und wer Ceuta oder Melilla auf dem Landweg via Marokko erreicht hat, für den gibt es kein Zurück. Hassans königliche Truppen lassen sie nicht wieder aus den spanischen Exklaven heraus, und zwischen Ceuta/Melilla und Europa, also Spanien und Spanien, liegt die Meerenge von Gibraltar.

400 Millionen Pesetas müsse man bis 1998 für die Versorgung der hier gestrandeten Flüchtlinge ausgeben, klagte Javier Cos'o, Vertreter der Madrider Regierung, publikumswirksam vor der Bevölkerung Ceutas und spielte damit auf angebliche Kosten für das Lager Calamocarro an. Dort werden die Flüchtlinge interniert, seit es im Oktober 1995 zu tagelangen Straßenschlachten zwischen ihnen und rassistisch motivierten Bürgerwehren sowie der Guardia Civil gekommen war. Wieviel von diesem Geld in den Ausbau des Polizeiapparates fließt, blieb im dunkeln.

Vorher hatten die Flüchtlinge im Niemandsland und den Katakomben der alten Befestigungsstadt gehaust, von dem lebend, was man sich verdienen kann, wenn man Autos in Parklücken einweist oder der spanischen Bevölkerung Einkaufstüten nach Hause trägt. Das tun sie immer noch - jetzt aber unter Kontrolle. Die Zustände in Calamocarro spotten, den Aussagen spanischer Menschenrechtsorganisationen zufolge, allen Vorstellungen von Menschenwürde. Die Flüchtlinge dort hoffen auf eine legale Einreise nach Spanien, und tatsächlich konnten in den letzten zwei Jahren - immer dann, wenn sich das Lager zu sehr füllte oder beunruhigende Krankheitsfälle auftraten - einige eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr ergattern. Laut Cos'o könnte damit bald Schluß sein; schließlich gehe es angesichts steigender Flüchtlingszahlen darum, abgesehen von den humanitären auch polizeiliche Maßnahmen vorzubereiten.

Viele Flüchtlinge ziehen es daher vor, aus dem Reiche Hassan II., König von Gottes Gnaden, der dank französisch-spanischer Unterstützung seit 1961 uneingeschränkt regiert, auf "pateras" die Überfahrt zur iberischen Halbinsel zu wagen. Sie hoffen, an Andalusiens Südküste unentdeckt an Land gehen zu können. Erwartet werden sie dort von der Guardia Civil und der spanischen Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit Menschen mit dunklerer Hautfarbe nicht besonders gastfreundlich gegenübertritt. Selten gehen legale Marokkaner in Spanien ohne Papiere auf die Straße; illegale finden sich schnell, wenn sie aufgegriffen und ordnungsgemäß abgeschoben wurden - für ungefähr drei Monate in einem von Hassans zahlreichen Gefängnissen wieder - nach Informationen der Organisation "Menschenrechte" in Cadiz die übliche Bestrafung für einen Fluchtversuch.

Nach offiziellen Angaben kamen in den letzten Jahren über zweihundert Menschen beim Versuch einer illegalen Einwanderung ums Leben: Sie erstickten oder verbrannten in Lkws oder Schiffscontainern; die Mehrheit ertrank. Auch wenn von Ceuta aus Spanien zum Greifen nah erscheint, die Winde, die das Zusammentreffen von Mittelmeer und Atlantik begleiten und für hohe Touristenzahlen im Surferparadies Tarifa sorgen, sind tückisch.

Spaniens Innenminister Jaime Mayor Oreja lehnte anläßlich der jüngsten Katastrophe jegliche Verantwortung für die Toten ab, damit war die "bisher größte Tragödie des Immigrationsphänomens" auch in der Presse abgehakt. Einige Tage darauf wurde Melilla Thema, als die Stadtoberen die fünfhundertjährige "Eingliederung Melillas unter die Krone von Kastilien" feierten. Man feierte unter dem Motto "Der Toleranz wegen". Vorgebliche Vertreter derer, die in Melilla angeblich seit 500 Jahren in Toleranz und gegenseitigem Respekt leben - ein Bischof, ein Rabbi, der spirituelle Vorsitzende einer hinduistischen Gemeinde und der Vorsitzende der moslemischen Bevölkerung Melillas - ließen Tauben fliegen, sangen gemeinsam die "Ode an die Freude" und teilten mit, man möge Jubiläum und Feier doch als Bestandteil des Internationalen Jahres gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus verstehen. Ob der Stacheldraht, der im Herbst letzten Jahres um ganz Melilla gezogen wurde, um Flüchtlingen den Zutritt zur Stadt zu erschweren, die Feierstimmung störte, ob jene Flüchtlinge, die - nach pogromartigen Übergriffen von Legionssoldaten am 10.März 1996 - im Fußballstadion interniert wurden, ebenfalls eingeladen wurden, war nicht zu erfahren.

Allein, König Hassan war verstimmt. Er empfand die Feierlichkeiten als Provokation, weil Marokko Anspruch auf Ceuta und Melilla erhebt. Denen, die hüben wie drüben nicht zur königlichen Familie gehören, könnte es egal sein. Doch Querelen wie diese "Meinungsverschiedenheiten" zwischen Marokkos und Spaniens Eliten bedeuten, daß Flüchtlinge mehr denn je zur Manövriermasse werden: Zwar hat Hassan sich in einem Abkommen verpflichtet, Flüchtlinge abzufangen; hält er ein bißchen Druck auf Spanien für opportun, so werden die Grenzen zu Ceuta und Melilla von marokkanischer Seite her durchlässiger - dann füllen sich das Lager Colamacarro und Melillas Stadion, der Schleppersektor boomt und Marokkos männliche Jugend geht des Nachts an Bord.

Und mehr angeschwemmte Leichen junger Marrokkaner und Algerier beeinträchtigen das Badevergnügen an Spaniens Südküste.