Die Schweiz im Anti-Drogen-Rausch

Mit der Volksinitiative "Jugend ohne Drogen" droht das Ende des Schweizer Modellversuchs

Am 28. September sollen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger über die künftige Drogenpolitik im Alpenstaat entscheiden. Die Volksinitiative "Jugend ohne Drogen", initiiert von dem gleichnamigen Verein, der rechten Freiheits-/ Auto-Partei und dem noch rechteren Verein zu Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM), hat dazu bereits im Dezember 1992 ein Volksbegehren lanciert, das im Juli 1993 mit über 140 000 gültigen Unterschriften eingereicht wurde. Ein überparteiliches Pro-Komitee versammelt zudem konservative und liberale Nationalräte der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP), der Liberalen Partei, der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP). Unterstützt wird es auch von Kirchenvertretern und sportlicher Prominenz.

Eine "möglichst drogenfreie Gesellschaft" müsse angestrebt werden, wußte der Präsident des Vereins Jugend ohne Drogen, CVP-Ständerat Markus Kündig, in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) bereits im August das Ziel der Volksinitiative zu benennen. Ernst Aeschbach, Vorstandsmitglied des gleichen Vereins, legte nur drei Wochen später nach: "Die Drogenpolitik des Bundes und einzelner Städte" unterliege "dem Druck von ideologisch motivierten Kreisen" und bewege sich "mehr und mehr in Richtung einer Drogenliberalisierung". Daß bei "Süchtigen" "körperlicher Entzug (...) den wichtigsten Schritt auf dem Weg zu einem drogenfreien Leben" darstelle, so Aeschbach, werde von den Befürwortern "suchtverlängernder Massnahmen" - gemeint ist die seit einigen Jahren praktizierte kontrollierte Abgabe von Heroin an sogenannte Schwerstabhängige sowie die Heroinsubstitution durch Methadon und Morphin - nicht beachtet. Die Gegner der Initiative - vom Schweizer Regierungsrat über Teile der SVP, Jungliberale und Grüne bis hin zur Schweizer Linken und zahlreichen Selbsthilfe-Organisationen - waren schon Ende August von der liberalen Nationalrätin Suzette Sandoz in der NZZ als "nützliche Idioten im Dienste gewisser Kreise, die ein finanzielles Interesse an einer Ausweitung des Drogenhandels in der Schweiz" hätten, abgekanzelt worden.

Sollte die Volksinitiative Erfolg haben, sei "die seit 1991 gemeinsam von Bund, Kantonen und Städten getragene (Drogen-, M.S.) Politik der vier Säulen" am Ende, befürchtet dagegen Thomas Zeltner, Direktor des staatlichen Bundesamtes für Gesundheit.

Die Schweizer Vier-Säulen-Politik (Prävention, Überlebenshilfe und Schadensminderung, Therapie und - die Schweizer lieben offene Worte - Repression) dient häufig als Vorbild für Liberalisierungsabsichten in anderen europäischen Großstädten. Seit 1988 entstanden in Zürich dezentrale Kontakt- und Anlaufstellen, Notschlafstellen, Wohnprojekte, ein Frauen-Nachtbus, ein Job-Bus und ein abgestuftes Substitutionsangebot. Am Platzspitz, der damaligen offenen Szene Zürichs, wurde zudem die erste öffentliche Spritzenvergabe eingerichtet. Vom Januar 1994 bis Dezember 1996 folgte ein Modellversuch über "eine ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln", Heroin und Subsistenzmittel werden bis heute vom Staat kontrolliert abgegeben. "Die Zahl der Neukonsumierenden (Ö) geht zurück; die Ausstiegschancen auch für Schwerstabhängige haben sich verbessert; die Zahl der neu mit dem Aids-Virus Infizierten hat deutlich abgenommen; die Zahl der Drogentoten fällt seit 1994 kontinuierlich; die offenen Szenen wurden aufgelöst; die polizeilichen Beschlagnahmungen von illegalen Drogen haben sich seit 1995 mehr als verdoppelt und die Menge der beschlagnahmten Drogengelder vervielfacht", bilanziert Thomas Zeltner die Resultate der Vier-Säulen-Politik.

Die Hauptgründe für das Festhalten der Schweizer Regierung am liberalen Drogenkonzept liegen aber im ökonomischen und kriminalistischen Bereich. Im seit Juli vorliegenden Synthesebericht des Schweizer Modellversuchs wird eine "Kosten-Nutzen-Analyse" aufgestellt, die sich sehen lassen kann: Etwa 45 Franken pro Tag und Patient können aufgrund rückläufiger Kosten für Polizeimaßnahmen, Strafuntersuchungen und Gefängnisaufenthalte staatlicherseits eingespart werden (vgl. Jungle World, 37/97). Diese volkswirtschaftliche Rechnung, der Rückgang der Beschaffungskriminalität um bis zu 90 Prozent und das Verschwinden der offenen Szenen erklären auch die Spaltung des bürgerlichen Lagers zur Volksinitiative in fundamentalistische Moralisten und kühl rechnende Pragmatiker.

Die "Anwohner (Ö), Geschäftsleute und Passantinnen" in Basel würden heute - im Gegensatz zur Situation in den achtziger Jahren - "durch die Drogenabhängigen und die Dealer" nicht mehr "massiv gestört", begrüßt der liberale Nationalrat Christoph Eymann die Rückkehr zum business as usual. Der Zürcher Regierungsrat wies Anfang September in der NZZ auf "erhebliche finanzielle Zusatzaufwendungen" hin, die bei einem Wegfallen von "Nachfolgeprogrammen für Methadon- und Heroinbezügler" allein für "verstärkte Repression" anfallen würden. "Jährliche Zusatzkosten von einigen hundert Millionen Franken sind eine realistische Schätzung der Folgekosten", rechnet auch Thomas Zeltner vor. Doch "selbst damit würde es kaum möglich sein, den verstärkten Druck auf der Gasse und auf die öffentliche Ordnung aufzufangen".

Daß Repression nicht nur die - offizielle - vierte Säule der nationalen Drogenpolitik darstellt, sondern als Grundlage der anderen drei Säulen dient, ist dabei allen Beteiligten klar: Schon 1992 wurde der Zürcher Platzspitz solange polizeilich geräumt, bis die offene Szene verschwunden war. Die Räumung des Lettenbahnhofs, nachfolgende feste Station der Zürcher Drogenszene, erging im Februar 1995 mit der "Aktion Paukenschlag". Alle dabei festgenommenen Nicht-Schweizer kamen umgehend in die sogenannte Ausschaffungshaft. Nicht in Zürich gemeldete Personen wurden zu ihren mutmaßlichen Herkunftsorte verfrachtet, Menschen ohne festen Wohnsitz einfach an der Stadtgrenze ausgesetzt.

Dieses Verfahren wird bis heute durchgängig angewendet, die staatlichen Anlaufstellen dürfen nur von Bewohnern Zürichs genutzt werden. Regelmäßige Polizeikontrollen im Umkreis der Anlaufstellen sorgen dafür, daß das so bleibt. Die Anzahl der Kantonspolizisten ist ohnehin von Jahr zu Jahr gesteigert worden. Das weiß auch der konservative CVP-Nationalrat Norbert Hochreutener: "Die Initiative (Jugend ohne Drogen; M.S.) würde den Polizeiapparat ausbauen. Eine maßvolle Verstärkung der Repression ist zu begrüßen. Unsere Behörden auf allen Stufen tun dies auch ohne Initiative", verteidigte er die staatliche Drogenpolitik bereits im Juli in der NZZ. Er wird am 28. September für eine Fortsetzung der Vier-Säulen-Politik und gegen die geplante Änderung der Bundesverfassung stimmen.