Der Schatten Çatlis über Gazi

Türkei: Im Prozeß wegen der Gazi-Unruhen ordnet das Gericht die Festnahme von acht mutmaßlichen polizeilichen Todesschützen an. Die Kontraguerilla war auch vor Ort

"Sogar Grabsteine haben sie hier zwischenzeitlich festgenommen" - Menekse Poyraz' Lächeln ist bitter. Ihre Tochter Zeyneb starb vor zweieinhalb Jahren unter den Gewehrsalven türkischer Sicherheitskräfte in dem vor allem von Aleviten bewohnten Stadtteil Gazi. 28 Menschenleben forderten die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und vorwiegend alevitischen Demonstranten am 12. und 13. März 1995 in Istanbul. Seither ist Gazi Bannmeile, in die sich die Sicherheitskräfte nur als bis zu den Zähnen bewaffnete Kohorten hineinwagen. Die Poyraz ließen ihre Tochter gerade deshalb hier begraben. Zeynebs Grab schmückt jetzt wieder der Grabstein mit der Aufschrift "Im antifaschistischen Widerstand des Volkes gefallen", den die Eltern nach monatelangem Sparen hatten meißeln lassen. Zunächst beschlagnahmte die Polizei den Grabstein der im Alter von 24 Jahren Getöteten schon aus der Werkstatt des Steinmetzes. Die Poyraz rannten den Behörden die Türen ein, bis diese die Steine auf Druck der Öffentlichkeit schließlich freigaben.

Daß alle Opfer in Gazi durch Polizeikugeln starben, die gezielt auf Kopf- und Brustpartie abgefeuert wurden, hatten die ballistischen Untersuchungen bald ergeben, wenn es auch acht Monate dauerte, bis diese Erkenntnis bei der Staatsanwaltschaft landete. Schnell gefunden wurden hingegen 35 sogenannte Provokateure aus den Reihen der Bevölkerung. Während gegen die angeblichen Provokateure sofort ein Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht eingeleitet wurde, entwickelte sich der Prozeß gegen die zwanzig mutmaßlichen Todesschützen zu einem Wanderzirkus. Zunächst verlegte man das Verfahren aus Istanbul nach Trabzon. Nach nur einer Anhörung, zu der die Angeklagten nicht erscheinen mußten, stellte die Strafkammer Trabzon das Verfahren zunächst ein: Die Beamten hätten "in Ausübung ihrer Amtspflicht" gehandelt, das Gericht sei deshalb nicht zuständig. Nach dem Einspruch der Angehörigen der Getöteten entschieden die Kollegen in Rize für eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft in Trabzon beharrte jedoch auf dem Einstellungsbeschluß, so daß die Akte schließlich beim Justizministerium in Ankara landete. Erst nach dem letzten Regierungswechsel beschloß dieses, das Verfahren neu aufzurollen.

Am Dienstag vergangener Woche war es soweit. Die ganze Nacht verbrachte Menekse Poyraz mit den anderen Angehörigen der Toten im Bus von Istanbul nach Trabzon an der Schwarzmeerküste. Noch vor Erreichen der Stadt wurden die sechs Busse aus Istanbul zweimal von der Polizei angehalten, jeweils mit der Warnung, man habe erfahren, es sei geplant, sie zu überfallen. Den Angeklagten hatte man die Anreise nicht zugemutet. Sie glänzten durch Abwesenheit. Statt ihrer trumpfte deren Anwalt Ilhami Yelek ç i auf, spezialisiert auf die Verteidigung von Polizisten, die schneller schießen als festnehmen, und mutmaßlichen Killern aus dem Spektrum der rechtsextremen Grauen Wölfe. Er bezeichnete seine Mandanten als "Patrioten und Helden im Dienste des Vaterlandes", während die Getöteten einschließlich "ihrer Sippe" als "Vaterlandsverräter" tituliert wurden. Nachdem Menekses Mann Cemal ihn daraufhin als "ehrlos" bezeichnete, mußten die Sicherheitskräfte Yelek ç i mit Gewalt von Poyraz trennen, dem er nur eine Ohrfeige hatte versetzen können.

Das Trabzoner Gericht hat nunmehr verfügt, acht der angeklagten Polizisten festzunehmen und am nächsten Verhandlungstag vorzuführen. Das Mißtrauen der Angehörigen ist damit kaum zu zerstreuen. Im Falle des Zivilpolizisten Adem Albayrak etwa, der in Gazi aller Wahrscheinlichkeit nach sechs Menschen erschossen hat, weiß man, daß er von Istanbuler Kollegen versteckt wird. Es ist zwar möglich, daß die Festnahmen zunächst erfolgen, an Gefängnisstrafen allerdings glaubt niemand. "Der Mörder von Gazi ist der Susurluk-Staat", hieß es in Trabzon immer wieder. Innerhalb der Ermittlungen um die Verstrickungen von Staat, Mafia und Kontraguerilla wird immer wahrscheinlicher, was die Betroffenen längst ahnen. Immer mehr Indizien deuten darauf hin, daß die Ausschreitungen von Gazi tatsächlich eine Provokation waren, allerdings eine der staatlich gesteuerten Kontraguerilla.

Tatsächlich existieren Verbindungen zwischen dem sogenannten Susurluk-Unfall und Gazi. Anfang November 1996 kam es in der Nähe der westanatolischen Stadt Susurluk zu einem Autounfall. In dem Wagen: Sedat Bucak - Abgeordneter von Ex-Ministerpräsidentin Tansu Çillers Partei des Rechten Weges, der ehemalige Vize-Polizeipräsident von Istanbul, Hüseyin Kocadag, sowie der seit fast 19 Jahren von der türkischen Justiz als ehemaliger Militanter der Grauen Wölfe gesuchte Abdullah Çatli - seit dem 9. Oktober 1978 wegen Beteiligung an der Ermordung von sieben Studenten der Türkischen Arbeiterpartei auf der dringenden Fahndungsliste der türkischen Polizei.

Seitdem reicht es aus, Susurluk zu erwähnen, um auf die Existenz der staatlichen Kontraguerilla anzuspielen, die sich durch den Unfall entlarvte. Çatli kam bei dem Unfall ums Leben; die türkische Polizei hatte ihn mit falschen Papieren und einem Waffenschein versorgt, den der ehemalige oberste Polizeipräsident, Justiz- und Innenminister Mehmet Agar unterschrieben hatte. Die Aufhebung von dessen parlamentarischen Immunität sowie der seines Parteifreundes Sedat Bucak - Clanchef und Befehlshaber von mindestens 2 000 gegen die PKK bewaffneten "Dorfschützern" - wird seither immer wieder aufgeschoben. Seit Anfang 1996 sitzen beide für Tansu Çillers Partei des Rechten Weges im Parlament.

Diese beiden Sicherheitsexperten gehörten zum Beraterstab der ehemaligen Ministerpräsidentin. Neben Agar wurde der damalige Polizeipräsident von Istanbul, Necdet Menzir, Abgeordneter ihrer Fraktion, ebenso der Ex-Gouverneur von Istanbul, Hayri Kozak ç ioglu. Beide hatten während der Unruhen von Gazi Dienst und wurden damals für die Eskalation mitverantwortlich gemacht. Mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß es sich bei den beiden um die Köpfe der türkischen Kontraguerilla handelt, die in politischen Schlüsselpositionen noch effektiver arbeiten sollten. Mit von der Partie in Gazi war auch der beim Susurluk-Unfall getötete Çatli-Freund Hüseyin Kocadag. Selbst Alevit, sieht man ihn auf Fotos von einem Polizeiwagen zu der aufgebrachten Menge sprechen. Mitglieder des Çatli-Terror-Teams wie die Polizisten der Anti-Terror-Einheiten Ayhan Çarkin und Ercan Ersoy - beide mittlerweile unter Mordverdacht angeklagt - waren in Gazi im Einsatz.

Im Zuge der plötzlichen Glasnost für bisher tabuisierte Themen gab der stellvertretende Sektionschef des polizeilichen Geheimdienstes, Hanefi Avci, bereits vor Wochen im Rahmen der Susurluk-Ermittlungen bekannt, der berüchtigte Kontra und Çatli-Kumpan Mahmut Yildirim "habe bei der Provokation von Gazi seine Finger im Spiel gehabt". Er stammt ebenso wie Çatli aus dem Spektrum der militanten Grauen Wölfe, deren Spezialität es in den siebziger Jahren war, mit der Beschießung von Kaffeehäusern Straßenschlachten zu provozieren.

Angefangen hatte in Gazi alles mit eben einer solchen Beschießung von Kaffeehäusern. Unbekannte Täter feuerten aus einem Taxi in die Lokale, töteten einen alevitischen Geistlichen und verletzten weitere 15 Menschen. Die Bewohner des Viertels strömten daraufhin zum Ort des Geschehens. Die Stimmung begann aggressiv zu werden, nachdem die Polizei aus der tausend Meter entfernten Wache nur kurz auftauchte und nicht einmal die Leiche des Erschossenen aus dem Kaffeehaus entfernte. In den Nachtstunden entlud sich die Wut der Menge gegen die Sicherheitskräfte, die keine Anstalten machten, die Schützen zu ermitteln. Zunächst marschierten etwa 500 bis 600 Demonstranten auf die kleine Polizeistation in Gazi zu. Nachdem ein Demonstrant durch Schüsse aus einem Polizeipanzer getötet worden war, eskalierten die Spannungen zu Straßenschlachten mit der Polizei. Aus der aufgebrachten Menge hagelte es Steine auf die Wache und die Panzer, Autos wurden in Brand gesteckt und rund 100 Läden verwüstet. Die Sicherheitskräfte nahmen dies zum Anlaß, gezielt das Feuer auf die mittlerweile rund 2 000 Demonstranten zu eröffnen. Durch die nächtlichen Fernsehübertragungen aus Gazi alarmiert, waren immer mehr Aleviten aus ganz Istanbul in das Viertel geströmt. Die getötete Zeyneb Poyraz etwa kam mit ihrer Familie aus dem zwanzig Kilometer entfernt liegenden Stadtteil Sariyet. Nachdem 28 Menschen getötet und etwa hundert zum Teil schwer verletzt worden waren, griff das Militär ein. Seit dem Putsch von 1980 wurde das erste Mal wieder der Ausnahmezustand über einen Istanbuler Stadtteil verhängt.

Gaziosmanpasa ist eines der typischen Viertel Istanbuls, in der die verschiednen Bevölkerungsgruppen - Türken, Kurden, Aleviten und Sunniten - vor allem eines gemeinsam haben: Sie teilen ihre Armut. Der ganze Stadtteil entstand aus "gecekondus", über Nacht gebauten Unterkünften. In Gazi machen die rund 70 000 Aleviten 70 Prozent der Bevölkerung aus. Ein hervorragender Ort für eine Provokation, denn in der Region leben Nationalisten, Islamisten und Aleviten in einer Zwangsgemeinschaft zusammen.

Über die eventuellen Motive für eine solche Provokation kann momentan nur spekuliert werden. Sie mag als Anlaß für eine darauffolgende Istanbul-weite Hatz auf potentielle Linksradikale gedient haben. Nach den Vorfällen in Gazi kam es zu Massenverhaftungen und -folterungen, und Necdet Menzir, damaliger Polizeipräsident, betonte immer wieder, er habe versprochen, "der Anarchie in Istanbul ein Ende zu bereiten".

Parallel zu der Anweisung des Trabzoner Gerichts, acht der Angeklagten im Gazi-Verfahren festzunehmen, wurden nun einige der Hauptangeklagten im Susurluk-Prozeß - der ehemalige Chef der Kontra-Abteilung der Polizei sowie Mitglieder des Çatli-Teams unter den Spezialeinheiten - aus der Untersuchungshaft entlassen. Kurz nach Çatlis Tod hatte Tansu Çiller den Susurluk-Unfall mit den Worten kommentiert: "Derer, die für diese Nation von Kugeln getroffen werden, wie auch derer, die für ihr Land Kugeln abfeuern, werden wir mit Respekt gedenken." Ein Oppositionspolitiker empfahl Frau Çiller, alle in den Susurluk-Unfall verwickelten mutmaßlichen Killer einfach zu adoptieren. Das wird kaum nötig sein, haben sie doch in der Türkei wenig zu befürchten.