Die Geschichte Marseilles begann mit einem griechisch-keltischen Joint Venture

Vom Kelch zum Krater

Von Massalia zum heutigen Marseille - wie jede alte Stadt hat auch die südfranzösische Metropole ihren Gründungsmythos. Der Marseilles hat mit Kulinarik, Geschlechterverhältnissen, einem keltischen König und griechischen Siedlern zu tun.

An einem anderen Ort zu siedeln als dem, an dem man geboren wurde, gilt derzeit als anrüchig. Historisch betrachtet muss jedoch festgestellt werden, dass die Ansässigen von der Ankunft von Fremden in vielerlei Hinsicht profitieren können. Das erkannte offenbar auch der keltische König Nannus, der um 600 v. Chr. von Protis angeführte griechische Siedler, die von der Westküste der heutigen Türkei kamen, zu einem Gastmahl einlud. Bei dieser Gelegenheit verliebte sich Nannus’ Tochter Gyptis in Protis und reichte ihm den Hochzeitskelch. Welches Getränk sich darin befand, ist nicht überliefert, doch dürfte es sich um Bier oder Met gehandelt haben. Als Hochzeitsgeschenk gab Nannus den beiden ein Stück Land, auf dem Massalia errichtet wurde, das heutige Marseille.

Es gebe »keinen Grund anzunehmen, dass Frauen nicht auch bei Gelagen dabei sein durften«, urteilt der Archäologe Philipp Stockhammer über die keltischen Gebräuche. 

Man mag Zweifel an den Details der Erzählung hegen, doch kann als gesichert gelten, dass damals ein florierendes Joint Venture entstand. Der Mythos gibt wohl sogar das Geschlechterverhältnis korrekt wieder, genetischen Untersuchungen zufolge waren die Einwanderer Männer. Sie führten neue Fischfangtechniken sowie den Oliven- und Weinanbau ein.

Der Wein erfreute sich bei den trinkfreudigen Kelt:innen großer Beliebtheit, bereits etwa 100 Jahre später wurde 500 Kilometer nördlich in Burgund einer keltischen Fürstin der Krater von Vix ins Grab gelegt, ein mächtiges, 1.100 Liter fassendes Bronzegefäß griechischen Ursprungs, in dem Wein und Wasser gemischt wurden. Das griechisch-keltische Joint Venture hatte möglicherweise sogar bis in die Gegenwart reichende Folgen. Austin Davis von der University of Alabama vertritt die These, dass die provenzalische Küche ein griechisch-französischer Hybrid sei.

Rustikaler als die prätentiöse haute cuisine höfischen Ursprungs nutzte sie einfache Zutaten, nicht zuletzt Fisch und Oliven, für Gerichte wie Bouillabaisse – in ihrer Grundlage eine griechische, dort als Kakavia bekannte Erfindung – und pan bagnat, eine Art provenzalischer Fisch-Burger.

Griechen, Gräber und Gelage

Auch jenseits der Kochkunst haben die Kelt:innen griechische Errungenschaften nicht einfach kopiert. Bei ihnen herrschte zwar keineswegs Gleichberechtigung, im Mythos aber ergreift Gyptis die Initiative, ein nach Maßstäben der extrem patriarchalen griechischen Zivilisation höchst ungewöhnlicher Vorgang. Griechinnen waren beim Weingenuss diskriminiert, sie erhielten keine Mischkessel für Wein und Wasser als Grabbeigabe, nicht zu reden von Gefäßen in der Größe des Kraters von Vix.

Es gebe »keinen Grund anzunehmen, dass Frauen nicht auch bei Gelagen dabei sein durften«, urteilt der Archäologe Philipp Stockhammer über die keltischen Gebräuche. Ob Gyptis und andere Keltinnen das auch in Massalia durchsetzen konnten, ist leider nicht bekannt.