Über den Drogenhandel in Marseille

Der Kalaschnikow-Traum

In den ärmeren Viertel von Marseille geben Drogenbanden den Ton an. Junge Teenager träumen vom Leben als Dealer, immer mehr von ihnen werden zu Mördern.

50 Mal wurde nach Angaben der Staatsanwaltschaft auf den Jungen einge­stochen, dann wurde er lebendig verbrannt. Er war 15 Jahre alt. Die Täter waren keine Jihadisten, wie man aufgrund ihrer Brutalität vermuten könnte, sondern mutmaßliche Mitglieder einer Drogengang. Die Tat ereignete sich vergangene Woche in Marseille.

Der Polizei zufolge war das Opfer selbst von einem Kriminellen angeheuert worden, einem 23jährigen, der im Gefängnis sitzt und Mitglied einer Bande sein soll. Er beauftragte demnach den 15jährigen in einem Online-Netzwerk, für 2.000 Euro einen verfeindeten Drogendealer einzuschüchtern, indem er dessen Wohnungstür anzünden sollte. Doch die andere Gang kam dem offenbar zuvor.

2024 bereits 17 Tote im Zusammenhang mit dem Drogenhandel 

Der 23jährige versuchte es weiter. Nach dem Tod des 15jährigen heuerte er der Polizei zufolge einen 14jährigen an, um einen Rivalen zu ermorden. Dafür versprach der Ältere ihm 50.000 Euro. Der 14jährige suchte sich dafür einen Fahrer – einen 36jährigen Familienvater, der nichts mit dem Drogenhandel zu tun hat. Doch als der sich weigerte, im Auto auf den 14jährigen zu warten, brachte dieser ihn mit einem Kopfschuss um.

Das war am Freitag voriger Woche – es war der 17. Tote, der dieses Jahr in Marseille im Zusammenhang mit dem Drogenhandel gezählt wurde. Im Jahr zuvor waren es 49 gewesen, ein Rekord. Grund dafür soll ein Krieg zwischen zwei Drogennetzwerken gewesen sein – »DZ Mafia« und »Yoda« –, der im vergangenen Sommer seinen Höhepunkt erreichte.

Trotz dieser enormen Gewalttätigkeit geht Philippe Pujol davon aus, es sei »ein Mythos, dass Marseille eine große Stadt für Gangster ist«. Vielmehr sei es »eine Stadt voller Verlierer«, sagt er der Jungle World, »und das schließt die Gangster mit ein«. Pujol stammt selbst aus Marseille, er hat gerade sein drittes Sachbuch über den Drogenhandel und die immer jüngeren Gangster der Stadt veröffentlicht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg Heroinhandel über die »French Connection«

Marseille hat den Ruf einer Mafiastadt, und das schon sehr lange. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg lief ein Großteil des internationalen Heroinhandels über die »French Connection«. Dahinter stand die korsische Mafia, die damals die Stadt in der Hand hatte. In einem solchen hierarchischen System habe der »große Boss« an der Spitze kein Interesse an ständiger Gewalt, erklärt Pujol, er wolle Kontrolle und Disziplin.

Heutzutage sei es allerdings »komplett anders«. Ab etwa 2010 habe sich die »Uberisierung«, so Pujol, des Drogenhandels beschleunigt. Statt einer großen Organisation gebe es viele kleine Netzwerke, die sich von den Großhändlern im Hintergrund die Ware besorgten und sie auf der Straße verkauften. Eben wie beim Milliardenkonzern Uber, der nur eine App anbietet, auf der selbständige Fahrer ihre Dienste anbieten können.

»Die großen Bosse sitzen längst nicht mehr in Marseille«, meint Pujol. Die meisten der Dealer in Marseille stünden ganz unten, »sie werden selbst ausgebeutet«. Doch der Mythos von der Gangsterstadt helfe den Leuten, die etwas weiter oben in der Nahrungskette sitzen. Den »Kalaschnikow-Traum« nennt Pujol das: den Traum vom Gang­sterleben in Marseille. Auch aus anderen Städten würden Jugendliche von den Drogengangs über soziale Medien angeworben. Manche kämen sogar einfach am Bahnhof an, um sich zu den Drogengangs durchzufragen. Junge Teenager seien das, sagt Pujol, meistens aus schwierigen Verhältnissen, zum Teil aus Jugendheimen weggelaufen.

Sie fingen ganz unten an, als Aufpasser, Späher und Boten. Sie hätten dann plötzlich Geld, könnten sich endlich schicke Markenklamotten kaufen – die »Dealer-Uniform« nennt Pujol das. Doch das Ziel der führenden Dealer sei immer, die Leute auszubeuten, die unter ihnen stehen – am besten sollen sie umsonst arbeiten.

»Es ist ein Mythos, dass Marseille eine große Stadt für Gangster ist. Es ist eine Stadt voller Verlierer, und das schließt die Gangster mit ein.« Philippe Pujol

Und so passiere es häufig, dass sich die kleinen Fische bei ihren Vorgesetzten verschulden: wenn die Polizei ihre Drogen beschlagnahmt, wenn sie nicht genug verkauft haben – oder wenn sich ihr Boss einfach absichtlich verzählt und behauptet, es fehle Geld. Ab dann arbeiten sie, um ihre Schulden zu begleichen, die aber meistens trotzdem weiterwachsen. »So kriegt man wirklich depressive und verzweifelte Menschen«, meint Pujol. Um da herauszukommen, seien sie bereit, alles zu tun. Manche kauften Drogen auf Pump, um sie auf eigene Faust zu verkaufen, oder überfielen andere Dealer. Ein Teil der Morde habe hier seinen Ursprung. Es seien Teenager, die »um nichts kämpfen, um Schulden«.

Manche werden Auftragskiller, die nenne man »Baby-Killer«, weil sie so jung seien – zum Teil noch nicht mal 15 Jahre alt. Sie »töten für 10.000, vielleicht 20.000 Euro, es kostet nicht viel«. Die älteren Dealer würden sie regelrecht zur Gewalt trainieren, ihnen Kokain geben, ihnen als Initiationsritus den Arm brechen. Diese Kinder bräuchten Hilfe, meint Pujol, aber die Dealer würden sie eben zuerst erreichen – und wenn nicht die, dann jemand anders, Salafisten oder Rechtsextreme. Aber er sei trotz allem optimistisch. »Man muss sich um diese Kinder kümmern, das ist die Lösung.« Dann sehe man irgendwann, dass es besser werde, »in zehn oder 15 Jahren vielleicht«.

Auf die Leute vor Ort hören

Amine Kessaci hat konkrete Vorschläge parat, als ihn die Jungle World fragt, was getan werden müsste: Man müsse Cannabis legalisieren, eine »integrative Sozialpolitik« betreiben, zur »bürgernahen Polizei« zurückkehren und für mehr soziale Durchmischung sorgen, für mehr Sozialbauten, bessere Infrastruktur und Verkehrsanbindung für die abgehängten Viertel.

Kessaci ist erst 21 Jahre alt, aber er ist schon Politiker. Bei der Wahl im Juli verpasste er in einem Wahlbezirk im verarmten Norden der Stadt sehr knapp den Einzug ins Parlament für die Grüne Partei. Er war 16 Jahre alt, als sein älterer Bruder umgebracht wurde – zusammen mit einem Freund wurde er erschossen, die Leichen wurden in einem Auto verbrannt. Seitdem setzt sich Kessaci mit dem Verein »Conscience« für Angehörige von Opfern des Drogenhandels ein.

Bekannt wurde Kessaci, als er 2021 vor laufender Kamera Präsident Emmanuel Macron erklärte, er müsse auf die Leute vor Ort hören, statt in Paris Pläne am Reißbrett zu entwickeln. Macron war damals zu Besuch, um seinen großen Plan für die Stadt, »Marseille en grand«, zu bewerben: Milliarden sollten investiert werden, aber gleichzeitig sollte die Polizei verstärkt werden und härter gegen Dealer vorgehen. Im vergangenen Frühling gab es wochenlang Razzien, der Polizei zufolge wurden Hunderte verhaftet. Doch Kessaci erhofft sich von diesem Vorgehen wenig. »Diese repressive Politik ist schon tausendmal versucht worden,« meint er. »Gebracht hat sie nichts.«