Chilly Gonzales, Pianist, spricht über sein neues Album »Gonzo«

Mit Pauken-Beats und Puschen

Der kanadische Pianist Chilly Gonzales rechnet auf seinem neuen Album mit Richard Wagner und der Neoklassikszene ab. »Gonzo« ist ein referenzreiches Werk, mit dem sich der Musiker als deutschsprachiger Rapper neu erfindet. Die »Jungle World« hat ihn in einer Bar in Köln getroffen.

Chilly Gonzales alias Jason Beck ist ein Tausendsassa. Er hat unzählige Klavieralben aufgenommen, mit Größen wie Daft Punk oder Peaches gearbeitet und sich auch schon als Rapper ausprobiert. Nun gibt es ein Stück, auf dem er im wahrsten Sinne des Wortes auf die Pauke haut: »F*ck Wagner« erschien im April als erste Single aus dem jetzt veröffentlichten Album »Gonzo« und ist eine unterhaltsame Abrechnung mit dem antisemitischen Komponisten und Dirigenten Richard Wagner.

»Richard Wagner war ein großer Komponist, aber ein scheußlicher Mensch«, so Gonzales.

»F*ck him and his Nazi granddaughter / F*ck his fan club and his converts / They’re not welcome at my concerts«, rappt Gonzales über Pauken-Beats. In einer Strophe spielt er auf den Aufsatz »Das Judenthum in der Musik« an, den Wagner 1869 veröffentlicht hat. Darin steht unter anderem dieser Satz: »Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit.« Aus seinem obsessiven Judenhass hat er kein Geheimnis gemacht, kultisch verehrt wird er dennoch.

»Richard Wagner war ein großer Komponist, aber ein scheußlicher Mensch«, schreibt Gonzales, der gern in Bademantel und Pantoffeln auftritt, in einer von ihm initiierten Petition. Wagner habe seinen intellektuellen Einfluss benutzt, um den Antisemitismus zu befeuern. Daher möchte die Eingabe erreichen, dass die Richard-Wagner-Straße in Köln in Tina-Turner-Straße umbenannt wird.

Kanye West, »the brand new Wagner«

Mit Cancel Culture habe das aber nichts zu tun, meint Gonzales im Gespräch. Wichtig ist ihm »die Trennung des Werks vom Künstler«, für die auch sein Song plädiert. Der 1972 in Montreal geborene Künstler, der selbst jüdische Wurzeln hat, verehrt die Musik von Wagner sogar. »Er hat die westliche Kunst verändert, sein Einfluss nicht nur auf die musikalische Welt ist allgegenwärtig«, meint er. »Das kann man nicht ignorieren.«

Dann erzählt er von dem jüdischen Pianisten Igor Levit, der sich ebenfalls für eine Trennung von Künstler und Kunstwerk ausspricht und Wagner auch schon selbst gespielt hat. Gonzales grenzt sich deutlich von der Zensurkultur ab, kritisiert deren Trollmentalität, wendet sich aber auch gegen reflexhafte Diskussionen von Fans, die ihre Idole vor berechtigter Kritik schützen wollen: »Fans can’t see clearly / That’s why it’s called fantasy / Fans can’t see clearly / Every criticism is blasphemy«, reimt er. Kanye West bezeichnet er im Stück sogar als »the brand new Wagner«.

Er empfinde Wut, wenn er über die Richard-Wagner-Straße laufe, die sich unweit einer Synagoge befindet, sagt er. Trotzdem fühlt er sich wohl in Köln, wo er seit 2012 lebt. Das schlichte und ruhige Piano-Instrumental »Eau de Cologne« ist eine melancholische Ode an die Stadt. »Ich spiele das Stück auf der Tastatur sehr tief, aber es ist sehr Dur-lastig. Dadurch ist es ein positives Lied. Auf diese Weise wollte ich ein Bild von Köln zeichnen: Die Stadt hat eine seltsame Schönheit, die sich keineswegs auf der Oberfläche befindet. Die Stadt ist anders als Wien, Prag oder Paris und verzaubert einen nicht auf den ersten Blick. Aber ich habe mich sehr in Köln verliebt.«

»Neoclassical Massacre« nimmt es mit Spotify auf

Der Titel zählt zu den harmonischen Kompositionen, die auf »Gonzo« aber eher rar sind. Das dürfte auch daran liegen, dass sich der Pianist von allzu seichten Klangästhetiken abgrenzen möchte. Dass seine bisher dreiteilige Reihe »Solo Piano«, die im Jahr 2004 begann, heute teils als Neoklassik rubriziert wird, ärgert ihn. Neoklassik ist mittlerweile primär vorhersehbare Entspannungsmusik. Das Rap-Stück »Neoclassical Massacre« kritisiert die Entwicklung jener Klaviermusik und deren kalkulierte Kompatibilität mit den neuen Streaming-Hörgewohnheiten: »The piano has been monetized / All those fingers trying to hit the sweet spot / They’ve been spotified«.

Wenn Gonzales seine Neigung zum Rollenspiel thematisiert und die Grenzen von Authentizität verhandelt, wirkt gerade das seltsam authentisch.

Wenn Gonzales seine Neigung zum Rollenspiel thematisiert und die Grenzen von Authentizität verhandelt, wirkt gerade das seltsam authentisch

Bild:
Victor Picon

Der Song nimmt es also auch mit Spotify auf. Klicks generiert, wer es in eine von dem Konzern kuratierte Playlist wie »Peaceful Piano« schafft. In dieser findet man algorithmusfreundliche Musik mit simplen, repetitiven Akkordabfolgen. Einer ARD-Dokuserie zufolge sollen wenige Ghostwriter hinter einer großen Anzahl von Künstlerprofilen stecken, deren Musik man in solchen Spotify-Listen finden kann.

Auch Gonzales kennt diese Berichte: »Je gesichtsloser diese Musik klingt, umso besser funktioniert es beim Streaming. Das bedeutet: Neoklassik könnte sehr bald die erste Musik sein, die erfolgreich von Künstlicher Intelligenz komponiert und reproduziert wird. Das wäre wahrscheinlich eine gute Entwicklung, denn dann werden all die Menschen, die diese gesichtslose Neoklassik aufnehmen, in kreativer Hinsicht obsolet sein. Ich zähle nicht dazu: Meine Klaviermusik ist nicht im eigentlichen Sinne Neoklassik, sie hat einen Standpunkt: Es gibt etwa Überraschungen und unangenehme Momente. Mein Ansatz erschöpft sich nicht darin, nur eine berührende Atmosphäre zu kreieren.«

Der selbsternannte »Judenrapper MC Bagel« outet sich als Groupie von Clara Schumann, würdigt die Hamburger Rapperin Haiyti sowie Deichkind.

Auf »Gonzo« gibt es Klavierstücke mit subtilen Dissonanzen und unerwarteten Brüchen. Auch die Rap-Stücke sind keine Hintergrundbeschallung: »I.C.E.«, der erste Gonzales-Titel in deutscher Sprache, begann als »Schnapsidee«. Doch das Wortspiel ist referenzreich. Es geht um »Smalltalk in verspäteten Zügen« und den humorvollen Blick aus dem Zugfenster auf die Absurditäten des deutschen Alltags. Dabei konfrontiert Gonzales, dessen jüdischer Großvater mit seiner Familie vor den Nazis aus Ungarn floh, die Hörerschaft auch mit der NS-Vergangenheit: Wenn er zum Beispiel rappt, er sei »reich wie Ranicki«, spielt er auf den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki an, der das Warschauer Ghetto überlebt hat, und nimmt sich zugleich ein antijüdisches Stereotyp vor.

»I.C.E.« ist auch deshalb interessant, weil Gonzales darin unterschiedliche Einflüsse aufzählt, die seinen Eklektizismus aufzeigen: Der selbsternannte »Judenrapper MC Bagel« outet sich als Groupie von Clara Schumann, würdigt die Hamburger Rapperin Haiyti sowie Deichkind. »Meine Kunst ist entartete«, rappt der Musiker und erwähnt an einer Stelle auch Theodor W. Adorno.

Der Philosoph antizipierte in »Die Kunst und die Künste« 1966, dass sich die Grenzen zwischen den Kunstgattungen immer mehr auflösen, während die nationalsozialistische Kulturpolitik freie Kunst verurteilte: »Wo Grenzen verletzt werden, regt leicht sich die abwehrende Angst vorm Vermischen. Der Komplex äußerte sich pathogen im nationalsozialistischen Kult der reinen Rasse und der Beschimpfung des Hybriden.«

Zwischen mehreren Musikwelten oszillieren

Nun weisen viele Projekte von Gonzales eine sehr hybride Struktur auf: Er vermischt Rap mit Orchestermusik, verknüpfte Kammermusik mit elektronischen Beats und bricht auch live mit Erwartungen. Er stagedivte in der Kölner Philharmonie. Das demonstriert im Sinne Adornos, dass kulturell etablierte »Zonen selbst nicht natürlichen, sondern geschichtlichen Ursprungs sind«. Gonzales oszilliert zwischen mehreren Musikwelten, er kennt das Œuvre von Claude Debussy und den Gangsta-Rap von 50 Cent.

Rauschzustände, wenn ihn das Publikum trägt: Chilly Gonzales

Rauschzustände, wenn ihn das Publikum trägt: Chilly Gonzales

Bild:
Victor Picon

Die Rap-Kultur spielt für ihn eine besondere Rolle. In seinem Buch über die Sängerin Enya schreibt er, dass er mit Musik nur anfing, um Aufmerksamkeit zu erhalten: Seine Motivation war »egogesteuert«, er »wollte eine Phantasie ausleben«. Es ist plausibel, dass Gonzales irgendwann zum HipHop fand. »Rapper zeigen gute und schlechte Seiten ihrer Persönlichkeit. Deshalb verwende ich lieber Rap-Techniken als Gesang: Wenn ich singe, ist das eine Projektion, wie die Welt mich sehen soll. Wenn ich rappe, ist das eine Übertreibung meines wirklichen Seins«, sagt er.

Spuren aus einem Jahrzehnt Psychoanalyse

Das Intro von »Surfing the Crowd« ist ein Applausregen, dann geht es um die Rauschzustände, die Gonzales empfindet, wenn das Publikum ihn trägt. Er kennt die Gefahr, sich als Künstler mit der eigenen Rolle überzuidentifizieren. Inzwischen blickt er mit mehr Distanz darauf: »Gonzo« enthält Spuren aus einem Jahrzehnt Psychoanalyse, auf die er musikalisch bisher allenfalls beiläufig angespielt hat. Dabei entfaltet das Album eine interessante Dialektik: Wenn Gonzales seine Neigung zum Rollenspiel thematisiert und die Grenzen von Authentizität verhandelt, wirkt gerade das seltsam authentisch.

Dass die Welle antisemitischer Vorfälle nach den Massakern der Hamas-Terroristen am 7. Oktober in Israel auf dem Album kein Thema ist, fällt natürlich auf. »Gonzo« war aber bereits im Februar 2023 so gut wie fertiggestellt. Zusammen mit Musikerkollegen wie Dirk von Lowtzow, der Antilopen Gang und dem Initiator Igor Levit tritt Gonzales bei einem Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus am 16. September in der Hamburger Elbphilharmonie auf.


Albumcover

Chilly Gonzales: Gonzo (Pias)