Eine Tänzerin tanzt auf dem Herräng Dance Camp in Schweden aus der Reihe

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Punk und Craziness

»Oh Mann! Crazy! Ich muss erst mal runterkommen«, stöhnt Mel. Julia und ich sind immer noch auf dem Herräng Dance Camp in Schweden. Julia ist schon schlafen gegangen, aber im Camp ist noch einiges los. Morgens um 2 Uhr treffe ich auf der Dansbanan, dem unteren Dance Floor, Mel, eine Tänzerin, die ausschließlich führt. »Ich habe grad mit Jenny getanzt, die kenne ich aus meiner Community. Die ist total betrunken und völlig unkoordiniert. Ich hab alles versucht, aber das ging gar nicht«, sagt sie schwer atmend. »Komm, wir setzen uns in die Bar«, sage ich aufmunternd.

Die Bar Bedlam ist nur wenige Meter entfernt von der Dansbanan. Leider sind alle Plätze besetzt, die Band hat gerade angefangen zu jammen. Wir stellen uns an den Eingang und hören zu. Neben Gitarre, Klavier, Trompete und Klarinette ist auch das Klacken zweier Stepptänzer zu hören, die jetzt ihr perkussives Solo tanzen. Im Hintergrund spielt der Tanzlehrer und Choreograph Chester Whitmore mit einem Trommelstock auf einer Bierflasche und auf diversen Stuhllehnen.

»Das ist sie!« entfährt es Mel. »Wer?« frage ich. »Jenny!« flüstert Mel halblaut. Die junge Frau geht ruhig, fast schlafwandelnd, aber zielstrebig auf die Band zu. Sie trägt ein auffälliges Abendkleid. Irgendwie overdressed. Sie setzt sich auf den Boden vor den Gitarristen und klopft mit einer Hand auf den Korpus der Gitarre.

Niemand sollte so allein sein in einem Moment der Krise. Zum Glück konnte das Awareness-Team Schlimmeres verhindern. Aber wir sollten vielleicht darauf achten, dass Einzelne nicht zu sehr vereinsamen.

Der Gitarrist Andrej, der ebenfalls bei uns im Haus wohnt, gibt ihr ein Zeichen, dass sie das unterlassen soll. Sie hält inne, greift sich dann einen kleinen Hocker und versucht, dazu im Takt der Musik auf den Boden zu hauen. Es gelingt ihr nicht, sie ist zu betrunken. Ihr Hockerstakkato hat jetzt auch die Band aus dem Rhythmus gebracht. Alle Augen im Raum sind auf sie gerichtet. Der Klarinettist versucht, sie mit Gesten zu beruhigen. Endlich gibt sie auf und legt sich einfach auf den Boden. Eine Frau neben uns sagt zu einer anderen: »I’ ll call the security.«

Wenig später erscheint eine Frau aus dem Awareness-Team, verschwindet wieder und kommt mit einem jungen Mann zurück, der Jenny sanft hinausbegleitet. Mel und ich folgen ihnen.

Mit wütender Geste wirft die Verstörte einen Apfel, den sie von einem Tisch in der Bar mitgenommen hat, in die Luft. Ruhig spricht der junge Mann auf sie ein. Sie setzen sich. Es dauert eine gute halbe Stunde, dann verlässt sie das Veranstaltungsgelände.

»Ich dachte zunächst, sie wäre vielleicht Teil der Performance«, sagt Andrej am nächsten Morgen, als wir in der Küche sitzen und mit den Bewoh­nern unseres Hauses über den Vorfall der vergangenen Nacht sprechen. Alle in der Bar waren schockiert. Als Teil einer Punk-Performance wäre Jennys Aussetzer perfekt gewesen. Solche Konzerte leben von Verrücktheit und diesem »Das kann ich auch«-Gefühl.

Kunst und Wahn schienen sich zu verbinden

Für einen kurzen Moment schienen sich in der Bar Kunst und Wahn zu verbinden. Um sich sofort wieder zu trennen. ­Obwohl vermutlich die Musiker die Frau dazu inspiriert hatten, selbst zu performen. Sie war mehr als nur betrunken. Es war spürbar, dass da noch etwas anderes bei ihr aus dem Ruder gelaufen war.

Es machte alle betroffen, sie so hilflos zu sehen. Noch schrecklicher aber war, dass sie offensichtlich allein war. Dass sich niemand für sie verantwortlich fühlte. Niemand sollte so allein sein in einem Moment der Krise. Zum Glück konnte das Awareness-Team Schlimmeres verhindern. Aber wir sollten vielleicht darauf achten, dass Einzelne nicht zu sehr vereinsamen.

Das Camp kann sehr inspirierend sein, aber auch verstören und verunsichern. Auf einmal mit so vielen Menschen konfrontiert zu sein, die sich präsentieren und miteinander konkurrieren, die alle toll aussehen und toll tanzen wollen, ist für alle herausfordernd. Dass dieser soziale Stress mental nicht stabile Leute aus der Bahn werfen kann, ist nicht verwunderlich. Schon eher, dass es nicht häufiger geschieht.